Wie Nachwuchsspieler im Profi-Football ausgewählt werden

Verletzt in die Hölle

Für den Draft der National Football League werden Nachwuchsspieler genau durchleuchtet – am Ende werden viele jahrelang umsonst ihre Gesundheit riskiert haben.

Wenn der Superbowl gespielt ist und der jeweilige Champion des Jahres feststeht, beginnt in der National Football League (NFL) die Offseason. Wobei die Saison gar nicht so sehr »off« ist, wie die Bezeichnung glauben zu machen versucht. Es wird an Details der Regeln geschraubt, manche Spieler werden sogenannte Free Agents und wechseln den Verein, Coaches kommen und gehen. Und der Draft fällt in diese Zeit – das Auswahlverfahren, bei dem die besten College-Spieler auf die Profi-Teams verteilt werden.
Doch wie legen die Teams eigentlich fest, wen sie wann nehmen? Die Zeiten, in denen nur die sportlichen Leistungen zählten, sind schon lange vorbei – sollten sie je existiert haben. Vielmehr werden die Kandidaten so umfassend durchleuchtet, wie sich das Arbeitnehmer in keiner anderen Berufsgruppe auch nur ansatzweise bieten lassen würden, und das nicht nur unter rein sportlichen Aspekten.
Details über die sportliche Leistungsfähigkeit der Kandidaten sind längst bekannt, sie wurden schon lange von Scouts beobachtet und von jedem existieren Tapes mit allen Spielzügen aus ihrer College-Karriere.
Darüber hinaus wurde auch das Privatleben der Nachwuchsspieler genauestens ausgeforscht. Was für ein Mensch ist der jeweilige Sportler, wie ist er aufgewachsen, gab es Festnahmen, Drogenkonsum oder einfach nur andere Probleme? Ist er ein Teamplayer oder eher ein Einzelgänger? Die Teams versuchen umfassende Akten über die Auszuwählenden zu erstellen, und das in einem Ausmaß, dass schon einige Teamoffizielle damit zitiert wurden, ihre Kandidaten besser zu kennen als deren eigene Mutter.
Und auch wenn ein Sportler auch hier überzeugt und keine – oder zumindest nur sehr wenige – sogenannte red flags, also mögliche zukünftige Probleme, auftauchen, dann könnte man meinen, der Spieler habe es geschafft und seiner Wahl in der ersten Runde stehe nichts mehr im Wege.
Dem ist nicht so. Neben den live im Fernsehen übertragenen sportlichen Tests und den hinter verschlossenen Türen stattfindenden persönlichen Gesprächen beim NFL Combine – hier werden die besten Spieler des Jahrgangs eingeladen und von allen 32 Teams begutachtet – gibt er auch noch die medizinischen Checks. Denn bei manch einem Spieler ist es fraglich, ob sie nach den Jahren als Aktive in College und Highschool überhaupt noch körperlich fit genug für eine Profikarriere ist.
Bevor sie in der NFL die Chance auf eine Profikarriere mit lukrativen Verdienstmöglichkeiten haben, werden die jungen Spieler intensiv ausgenutzt; während Colleges und Universitäten Millionen mit ihnen verdienen, erhalten sie praktisch nur eine Ausbildung und kostenlose Unterkunft und Verpflegung. Für die vage Chance auf ein Leben als Profi sind viele bereit, ihre Gesundheit zu riskieren. Wie zum Beispiel Laremy Tunsil. Der Offensive Tackle ist einer der besten Spieler im diesjährigen Draft, viele Experten sehen ihn als den besten Spieler des Jahrgangs. Tunsil hatte in seiner Karriere bereits einige Verletzungen, darunter eine Kniestauchung, einen gerissenen Bizeps, einen Wadenbeinbruch und einen ausgekugelten Knöchel. Doch gute Nachrichten für Tunsil: Diese früheren Verletzungen reichen nicht für eine »injury red flag«.
Anders sieht der Fall bei den Linebackern Myles Jack und Jaylon Smith aus. Sie gelten als die beiden besten Spieler auf dieser Position in der Draft, doch Knieverletzungen werden die erhoffte Karriere wohl verhindern. Gerade bei Smith handelt es sich um einen tragischen Fall, er spielte in seinen drei College-Jahren in allen 39 Spielen, die die Univer­sity of Notre Dame in dieser Zeit bestritt. Bei seinem letzten Einsatz, dem Fiesta Bowl, machte er einen falschen Schritt, das Knie knickte zur Seite weg, Außenband und Kreuzband waren danach komplett gerissen. Zwar kann er inzwischen wieder trainieren, aber bei der Verletzung wurde auch ein Nerv beschädigt – der Nerv, der benötigt wird, um den Fuß oder die Zehen nach oben zu bewegen. Ob der Nerv sich regenerieren wird oder nicht, können die Mediziner nicht sagen – und so ist es bei Smith, der vor der Verletzung als einer der beiden besten Verteidiger der Draft galt, nicht mehr sicher, ob er in der ersten Runde genommen wird oder nicht – ­geschweige denn in den Top Ten. Manche Analysten gehen sogar davon aus, dass er damit für die meisten Teams noch nicht einmal in der letzten Draft-Runde in Frage kommt. Bei Jack sieht das besser aus, seine Chance auf komplette Heilung sehen zumindest einige Teams in der Prognose als sehr gut.
Dabei hatte der Fall von Marcus Lattimore bereits gezeigt, wie schnell die Träume von der Profikarriere­platzen können. Der damals 21jährige war Runningback bei der University of South Carolina und galt als einer der besten Kandidaten auf seiner Position, die im Draft 2013 zur Verfügung standen, als er sich das Knie verdrehte. Sämtliche Bänder rissen und der gleiche Nerv wie bei Smith wurde geschädigt. Lattimore wurde statt in der ersten Runde in der vierten gedraftet. Und ohne ein Spiel in der NFL absolviert zu haben, beendete Lattimore anderthalb Jahre später seine Karriere – im Alter von 23 Jahren.
Dabei haben Topspieler wie Smith meist noch Glück im Unglück. Denn Stars wie er sind oft versichert; sollte es also bei mit der Heilung des Nervs nicht klappen, wird er von den ihm dann zustehenden fünf Millionen Dollar trotzdem gut leben können. Aber das gilt eben nur für die Topspieler und niemand weiß genau, wie viele vielversprechende Talente unversichert sind und zu Sportinvaliden werden (und ihr Leben lang unter den körperlichen Beeinträchtigungen leiden werden).
Wenige werden es nicht sein: Allein von den 332 Spielern, die dieses Jahr Einladungen für das NFL Scouting Combine erhalten haben, wurden 28 für eine Folgeuntersuchung Mitte April kurz vor dem Draft einbestellt.
Marcus Lattimore hat inzwischen mit einer Karriere in der NFL abgeschlossen. Er shält es mittlerweile für einen Fehler von San Francisco General Manager Baalke, dass dieser ihn überhaupt gedraftet hatte. Er sagt heute, dass er es als Hohn empfand, wenn die Coaches und Betreuer ihn für seinen Einsatz im Training lobten. Dass er Schmerzen hatte, dass er sich beschissen fühlte, weil er wusste, dass er das Knie nie wieder so belasten können würde wie früher. Er nahm sogar etwa 30 Mal Oxycodon – ein Opioid der dritten Stufe –, das ihm nicht immer half, die Schmerzen im Knie zu unterdrücken, von denen kein anderer im Team wusste. Schließlich beendete er die Profikarriere, die nie wirklich begonnen hatte.
Klug war es sicher nicht von Lat­timore, mit seinen Problemen nicht zu den Coaches und den medizinischen Betreuern zu gehen. Aber es zeigt auch, was für ein Druck auf dem jungen Mann lastete, der versuchte, nach einer Verletzung zurückzukommen, und wie schwach die Vertrauensbasis ist, wenn mit den zuständigen Medizinern und Betreuern zu sprechen keine Option für ihn war.
Man kann nur darüber spekulieren, inwieweit die Gesamtdurchleuchtung vor einem Event wie dem Draft verhindert, dass sich überhaupt ein Vertrauensverhältnis entwickeln kann. Denn hier lernen die zukünftigen Spieler ein für alle Mal, dass es besser ist, wenn die Team­offiziellen Negatives eben nicht erfahren.
Wie fand Marcus Lattimore seine Zeit in der NFL? »Es war die Hölle«, sagt er.