Ein Angriff auf eine meiner Kathedralen

Velvet Indieground

Plattenläden sind meine Kathedralen. In ihnen ist alles verwahrt, an das ich glaube. Schöne Orte, dekoriert mit allen Symbolen, die mir wichtig sind. Dort kann ich zur Ruhe und zu mir selbst kommen. Natürlich treffe ich dort auch Gleichgesinnte, aber noch häufiger versinke ich in der Beschäftigung mit dem Material.
In guten Plattenläden ist die Kulturgeschichte der vergangenen 100 Jahre ausgestellt wie in einem Popmuseum. Früher waren es geschäftige Läden, in denen jeder Musikfan sich seine Musik besorgen musste. Es gab ja nur Platten und Radio. Wer seine eigene Musik privat hören wollte, brauchte Platten. Heutzutage sind alle nur noch Radiohörer. Streaming ist Radio. Plattenläden sind hingegen Entspannungsräume geworden, in denen ich selten mehr als eine Handvoll gebildeter, kulturbeflissener Leute sehe.
In so einen heiteren Entspannungsraum fiel am vorvergangenen Wochenende eine Bande Irrer ein und verprügelte die Anwesenden. Anlässlich des Ramadan versuchten Islamisten mit Gewalt ein Alkoholverbot durchzusetzen, das es in der Türkei offiziell nicht gibt.
Mit Freude hatte ich im Mai bei einem Besuch in Istanbul festgestellt, das dort eine ganze Reihe neuer Plattenläden Vinyl feilbieten. Velvet Indie­ground, den Laden, der zum Ziel des Angriffs wurde, besuchte ich damals nicht, weil er auschließlich neue Platten verkauft. Aber ich habe ihn gesehen. Ein netter kleiner Laden. Auch dort kam am Samstag nur ein Häufchen Leute zusammen, um das neue Radiohead-Album anzuhören und dabei vielleicht ein Bier zu trinken. Die Plattensammler wurden auch deswegen zum Ziel des Überfalls, weil sie nicht zahlreich genug waren. Zum Glück empörten sich 500 andere Istanbuler, unter ihnen sicherlich viele Plattensammler, über diesen Angriff auf ihren Tempel und verursachten aus Solidarität eine ordentliche Straßenschlacht.
Das Geschäft hatte erst vor einem Jahr am unteren Ende der Einkaufsmeile Istiklal eröffnet, in einem Gebiet, in dem auch radikale Islamisten wohnen. In kürzester Zeit wurden nun Spenden gesammelt, damit der Laden umziehen kann. Wann hat ein Plattenladen jemals so große Solidarität erfahren?
Von Istanbul lernen heißt kämpfen lernen. Erst wenn der letzte Plattenladen seine Pforten schließen muss, werdet ihr merken, dass man Kultur nicht streamen darf. Leute, geht wieder in die Plattenläden! Es gibt so viel zu entdecken. Auch wenn es dort dann nicht mehr so herrlich ruhig ist.