Das größte Flüchtlingslager der Welt in Dadaab, Kenia

Leben im Provisorium

Im kenianisch-somalischen Grenzgebiet befindet sich das größte Flüchtlingslager der Welt. Der britische Autor Ben Rawlence hat ein Buch über die Lagerstadt Dadaab und ihre Bewohner geschrieben.

Dadaab bedeutet »harter, steiniger Ort«. Denn nur wenige Zentimeter unter dem roten Wüstensand verbergen sich diamantharte Gesteinsschichten. Dadaab ist ein unbarmherziger Platz, nicht nur aufgrund ­seiner klimatischen Bedingungen. Die Stadt beherbergt das größte Flüchtlingslager der Welt. Gelegen im trockenen Norden Kenias, etwa 100 Kilometer von der somalischen Grenze entfernt, wurde das Camp 1992 gegründet und war ursprünglich für 90 000 Personen ausgelegt. Seitdem fliehen vor allem Somalier vor Bürgerkrieg, Gewalt und Islamismus hierher. Heute leben in Dabaab schätzungsweise 350 000 Menschen, viele von ihnen sind hier geboren. Aus dem Provisorium ist längst ein Dauerzustand geworden:
»Niemand will zugeben, dass die als Zwischenlösung gedachten Lager von Dadaab zu einer dauerhaften Einrichtung geworden sind: weder der kenianische Staat, in dessen ­Gebiet sie liegen, noch die UNO, die sie finanzieren muss, und schon gar nicht die Flüchtlinge, die dort leben«, schreibt Ben Rawlence in seinem Buch »Stadt der Verlorenen«.
Der britische Journalist und Menschenrechtler hat neun Bewohner vier Jahre lang begleitet und ein beeindruckendes Buch über ihr Leben im dauerhaften Schwebezustand geschrieben. Während die Fotos das Lager zumeist von oben zeigen – man sieht endlose Reihen staubiger Zelte und Hütten –, schildert er das Lagerleben aus der Perspektive seiner Bewohner. Verschwimmt im Weitwinkelbild die Stadt in geometrischen Formen, gewinnt man durch die ­detailgetreue Schilderung mit vielen Anekdoten und Beispielen einen Eindruck von der Vielfalt der Biographien der Geflüchteten.
»Was ich in meinem Buch zu zeigen versuche, ist, dass jeder Mensch ­anders ist«, fasst Ben Rawlence im Gespräch sein Anliegen zusammen. »Jeder hat andere Träume. Es ist nicht so, dass alle Flüchtlinge nach Europa wollen. Von Dadaab die unsichere Reise nach Europa anzutreten, kostet zwischen zehn- und fünfzehntausend US-Dollar. Das kann sich sowieso nur die Mittel- und Oberschicht leisten. Und das sind die Menschen, die gerade ganz zufrieden damit sind, in Dadaab zu leben. Andere Bewohner wollen auf jeden Fall bald zurück nach Somalia. Und wieder andere wieder wünschen sich, in zu Kenia leben und legal zu arbeiten. Aber natürlich träumen alle Flüchtlinge davon, irgendwann ein besseres Leben zu haben.« So unterschiedlich wie ihre Träume sind die Wege, die die Menschen nach Dadaab geführt haben. Da ist Guled, der aufgeweckte Junge, der eigentlich nur gerne Fußball spielen möchte, bis er in der Schule als Kindersoldat für die radikalislamische Miliz »al-Shabaab« zwangsrekrutiert wird. Dadaab ist seine Rettung. Hier arbeitet er als Tagelöhner auf dem Markt und lebt in ständiger Angst, dass seine Desertion irgendwann auffliegen könnte. ­Ablenkung verschaffen ihm die Fußballspiele seines Lieblingsclubs Manchester United, die er sich im Zelt anschaut.
Isha ist eine Bäuerin und mehr­fache Mutter aus dem Süden Somalias. Sie entschloss sich erst zur Flucht, als ihre Tiere verhungert und einige ihrer Kinder gestorben waren. In ­Dadaab wird sie sich nie heimisch fühlen. Und doch bietet das Camp bessere Ausbildungsmöglichkeiten für ihre überlebenden Kinder, weswegen sie wohl vorerst hier bleiben wird. »Wer hier wohnt, hat Bildung«, hat einer ihrer Söhne stolz mit den frisch erworbenen Englischkenntnissen quer über die Blechtür ihrer Hütte geschrieben.
Kheyro – als Säugling in den neunziger Jahren ins Lager gekommen – hat sie schon erworben, die Bildung. Doch was bringt ihr der hart er­arbeitete kenianische Highschool-­Abschluss? Um in Kanada studieren zu können, ist ihre Note nicht gut genug. Eine kenianische Arbeitserlaubnis bekommt sie als Flüchtling nicht. Also arbeitet die junge Frau als Aushilfslehrerin an einer Grundschule im Lager. Obwohl sie die gleiche Arbeit wie ihre Kollegen macht, bekommt sie nur ein Zehntel dessen, was ein staatlich anerkannter Lehrer bekommt. Doch ohne dieses ­Zubrot von 80 US-Dollar monatlich würde ihre Familie wegen der immer weiter gekürzten Nahrungsrationen verhungern.
»Dadaab bietet Kheyro und anderen ihrer Generation viel mehr Möglichkeiten als das Leben in Somalia. Dort sind sie mit Unsicherheit, Krieg und einer sehr hohen Arbeitslosigkeit konfrontiert. Frauen werden diskriminiert. Doch der Traum dieser Flüchtlinge ist kein Leben im Lager. Zehntausende gut ausgebildete Menschen arbeiten für einen Hungerlohn als Freiwillige oder Praktikanten für die Uno oder ihre Partnerorganisationen. Sie wünschen sich, diese Tätigkeit legal in Kenia ausüben zu können und wie Kenianer bezahlt zu werden«, schreibt Rawlence. Immer wieder wird die Lagerstadt Dadaab von der Politik für gescheitert erklärt. Erst Ende Mai verkündete Kenias Innenminister Joseph Nkaissery die Schließung des größten Flüchtlingslagers der Welt bis spätestens ­November. Die Regierung begründete ihre Entscheidung mit der Bedrohung der nationalen Sicherheit. Sie befürchte, dass al-Shabaab in den ­Lagern aktiv sei. Dabei wird die Tatsache außer Acht gelassen, dass die meisten Bewohner Dabaabs vor der Terrormiliz geflohen sind.
Für Rawlence sind Äußerungen wie diese ohnehin nur bloße Rhetorik. Er glaubt nicht daran, dass Kenia das Lager im Alleingang schließen wird. »Die Vereinten Nationen haben einen klaren Fahrplan zur Auflösung ­Dadaabs, der in vielen Dokumenten festgehalten ist: Sobald Somalia befriedet ist, sollen die Flüchtlinge dahin nach und nach freiwillig zurückkehren. So weit ist es aber noch lange nicht. Und auch dann wird dieser Prozess Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, in Anspruch nehmen. Eine Schließung zum jetzigen Zeitpunkt stünde im Widerspruch zu diesen Prinzipien und die Uno würde nicht kooperieren. Und auch Europa – ­einer der wichtigsten Handelspartner Kenias – hat ein Interesse am Status quo, der ja in einer gewissen Weise Stabilität garantiert.«
Und so ist es letztlich der Schwebezustand, der von Dauer ist. Keine Verbesserungen in Sicht – aber eben auch keine Verschlechterung. Ben Rawlence gibt der Lagerstadt Dadaab in ihrer jetzigen Form noch zehn bis 15 Jahre – mindestens.

Ben Rawlence: Stadt der Verlorenen. Leben im größten Flüchtlingslager der Welt. Aus dem Englischen von Bettina Münch und Kathrin Razum. Nagel & Kimche, Zürich 2016, 416 Seiten, 24,90 Euro