Die rechte Gefahr in Lateinamerika ist nicht zu unterschätzen

Nicht nur an sich selbst gescheitert

Die linken Regierungen in Lateinamerika haben es versäumt, die alten politischen und wirtschaftlichen Strukturen aufzubrechen. Ihr Scheitern hängt aber auch mit dem Erstarken der Rechten zusammen.

Die linkspopulistischen Regierungen Lateinamerikas haben viel versprochen, doch was sie eingelöst haben, ist alles andere als revolutionär. Nie hätten sie die »Grundpfeiler der kapitalistischen Produktionsweise« angetastet, konstatiert Thorsten Mense in seinem Beitrag (Jungle World 23/2016). Damit hat er sicher recht. Doch seine Kritik, die links­populistischen Regierungen hätten den »Staat als das primäre Ins­trument gesellschaftlicher Transformation« angesehen, ohne zu bemerken, »dass er das größte Hindernis dafür ist«, verkennt die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in Lateinamerika.
Staaten sind weder Ins­trumente, die man sich willkürlich aneignen kann, um seine Ziele durchzusetzen, noch starre Maschinerien, die notwendigerweise jegliche Bewegung ihrer eigenen Funktionsweise unterwerfen und damit verderben. Nach Nicos Poulantzas sind Staaten die »Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse«. Jede soziale Bewegung, die eine Veränderung gesellschaftlicher Strukturen anstrebt, ist gut beraten, möglichst viel Einfluss im Staatsapparat zu gewinnen. Nils Brock ist zuzustimmen, wenn er in seinem Diskussionsbeitrag bemängelt, dass es die linken Regierungen versäumt hätten, den Dialog mit den sozialen Bewegungen aufrechtzuerhalten (Jungle World 25/2016). Zwar ist es richtig, dass die linken Regierungen Lateinamerikas die staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen, die sie vorfanden, übernommen und sich dadurch in Widersprüche verstrickt haben, wie Brock schreibt, doch es genügt nicht als Erklärung für das Scheitern der linken Projekte.
Eine Krise, die schon immer da war
Bereits zu Beginn der »linken Epoche« mussten sich die linkspopulistischen Regierungen gegen eine aggressive Opposition verteidigen, der noch immer zahlreiche Machtmittel – innerhalb und außerhalb staatlicher Institutionen – zur Verfügung stehen. Die Linken hatten zwar die Regierung, aber nicht die komplette Macht übernommen. Die Versuche, Wirtschaft und Politik zu demokratisieren, stießen auf erbitterten Widerstand des alten Establishments. So gesehen ist die Krise der Linken in Lateinamerika kein Phänomen von 2016, wie Brock schreibt, sie bestand von Beginn an. Auch der neoliberal-konservative Gegenangriff in Lateinamerika hatte bereits vor Jahren begonnen, und zwar mit fragwürdigen bis kriminellen Mitteln.
Im Jahr 2009 putschten Militärs den gewählten Präsidenten Honduras’, Manuel Zelaya, aus dem Amt. Er wollte ein Referendum über eine verfassunggebende Versammlung vorbereiten, um die Gesellschaft gerechter zu gestalten. Die konservative Legislative rief das Militär auf den Plan, das den Staatschef kurzerhand außer Landes brachte. Mittlerweile sind Wirtschaft und staatliche Institutionen in Honduras wieder fest in der Hand einiger weniger Familien. Soziale Bewegungen und Gewerkschaften werden kriminalisiert, paramilitärische Organisationen bedrohen und ermorden jene, die es wagen, sich den Interessen der Machthaber entgegenzustellen.
Wenige Jahre später folgte ein ähnlicher Fall in Paraguay. Im Juni 2012 jagte die Legislative den Präsidenten Fernando Lugo im Schnellverfahren aus dem Amt, als er eine Agrarreform anstrebte. Als Vorwand für das Verfahren hielt ein blutiger Zusammenstoß zwischen protestierenden Landlosen und der Polizei her. Inzwischen regiert wieder die konservative Colorado-Partei, der enge Verbindungen zum organisierten Verbrechen nachgesagt werden.
In Brasilien wurde in diesem Jahr nach einem ähnlichen Schema die Präsidentin Dilma Rousseff vorläufig ihres Amtes enthoben. Hier nutzte die rechte Opposition die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die Korruption aus. Dass die rechtsliberale Übergangsregierung selbst über beide Ohren im Korruptionssumpf steckt, scheint bislang keine Konsequenzen zu haben. In allen Fällen ist das Vorgehen der Konservativen sehr ähnlich und von einem »instrumentellen Verhältnis zur Demokratie« (Dario Azzellini) geprägt. Mit der Ausnahme von Honduras hat die rechte Opposition jeweils die formalen verfassungsmäßigen Regeln gewahrt. Die Verfahren, mit denen die Präsidenten beseitigt wurden, waren höchst fragwürdig, die angeblichen Vergehen der Staatschefs wurden nie glaubwürdig nachgewiesen.
Ähnliches droht nun in Venezuela, wo die Opposition versucht, per Referendum den Präsidenten Nicolas Maduro loszuwerden. Sollte dieser Weg nicht erfolgreich sein, sind der Opposition anscheinend auch andere Mittel recht. Oppositionsführer Henrique Capriles Radonski rief öffentlich das Militär dazu auf, sich auf seine Seite zu stellen.
Die Opposition argumentiert stets, dass sie Freiheit und Demokratie gegen eine drohende sozialistische Diktatur verteidigen müsse. In Ecuador, Bolivien und Nicaragua regieren die vermeintlich linken Staatschefs tatsächlich autoritär, auch zum Schaden von Basisaktivisten.
Doch letztlich wollen die alten Führungsschichten wieder die Regierungsmacht, die sie als ihren Privatbesitz ansehen. Staatliche Institutionen sind für sie Instrumente zur Wahrung der bestehenden Besitzverhältnisse. Die rechten, vorgeblich liberalen Parteien setzen sich in ihren Parteiprogrammen für Gleichheit und freien Wettbewerb ein, unterstützen sie die rücksichtslose Bereicherung des wirtschaftlichen Establishments.
In Kolumbien, wo in den vergangenen Jahren keine Linken regierten, kooperieren rechte Politiker, Industrielle und Großgrundbesitzer mit paramilitärischen Gruppen, die Gewerkschafter terrorisieren und die verarmte Landbevölkerung vertreiben, um Platz für die Agrarindustrie zu schaffen. In Brasilien gehören Sklaverei und Vertreibung auf entlegenen Farmen zum Alltag.
Die rechte Gefahr
Diese auf Gewalt basierende Wertschöpfung wurde aus rassistischen Strukturen der Kolonialzeit übernommen und vermischt sich mit vulgärlibertären Theorien. »Eure Armut kotzt uns an! Ihr seid an eurem Unglück selbst schuld!« – Das ist eine weitverbreitete Einstellung der rechten Mittel- und Oberklasse Lateinamerikas. Da US-amerikanische Stiftungen auch konservative Kreise in Lateinamerika unterstützen, wie etwa die »Bewegung Freies Brasilien« (MBL), wittern antiimperialistische Linke gerne eine Verschwörung des Imperiums. Auch wenn das Unsinn ist, ist der Einfluss dieser Kreise nicht zu unterschätzen.
Bei ihnen zeigt sich ein Hass auf die marginalisierte Bevölkerung, der sich zum Teil unverhohlen eliminatorisch äußert, wie die Kommentarspalten rechter Medien eindrücklich zeigen. Angesichts der Tatsache, dass in den Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts das Militär Zehntausende Menschen folterten und ermordete, muss man solche Drohungen ernst nehmen. Die lateinamerikanische Linke »könnte trotz – oder gerade wegen – des Verlustes der Regierungsmacht gestärkt daraus hervorgehen«, schreibt Thorsten Mense. Sie könnte aber auch daran zugrunde gehen, mit womöglich schwerwiegenden Folgen.
Die linken Regierungen haben es versäumt, die alten Strukturen der gewaltbasierten Wertschöpfung in Lateinamerika aufzubrechen. Ihre Sozialprogramme wurden mit den Erlösen der extraktiven Rohstoffpolitik finanziert, mit negativen Folgen für Menschen und Umwelt. Man kann der latein­amerikanischen Linken schwer zum Vorwurf machen, den Kapitalismus nicht im Alleingang überwunden zu haben, auch wenn Chávez und Co. genau das versprochen hatten.