Großbritannien im »Brexit«-Schock

Wie konnte das passieren?

Das Ergebnis des britischen Referendums über den Austritt aus der EU ist schockierend, aber nicht überraschend. Es zeigt die tiefe politische Spaltung des Landes.

Am Abend des Referendums waren die Anhänger der »Remain«-Kampagne vorsichtig optimistisch, dass sich Großbritanniens Bürgerinnen und Bürger für einen Verbleib in der EU entscheiden würden. Sie waren überzeugt davon, dass am Ende die Vernunft siegt. Grund genug hatten sie: Während Umfragen vor dem Referendum mit 52 Prozent einen knappen Vorsprung für »Remain« voraussagten, wuchs der Vorsprung am Wahltag auf 54 Prozent. Selbst die Protagonisten der »Leave«-Kampagne glaubten diesen Zahlen. Nigel Farage, der Vorsitzende der rechtspopulistischen Partei Ukip, erklärte bereits kurz nach Schließung der Wahllokale, dass »Remain es wohl gerissen hat«. Der EU-Ausstieg schien gerade noch verhindert worden zu sein.
Beide Seiten der Kampagne hatten während des hochemotionalen Wahlkampfes den Teufel an die Wand gemalt, sowohl im Falle eines Austritts als auch im Falle eines Verbleibs in der EU. Während die »Leave«-Kampagne sich auf die angeblichen Gefahren der Einwanderung und hohen Zahlungen Großbritanniens an die EU konzentrierte, verwiesen die Austrittsgegener auf die katastrophalen Folgen für die britische Wirtschaft. Die britische Regierung unter David Cameron versuchte etwa mit offiziellen Postsendungen an jeden Haushalt, Wahlberechtigte vom Nutzen des Verbleibs in der EU zu überzeugen. Cameron wollte zwar dem rechten Flügel der Konservativen mit dem Referendum Zugeständnisse machen, aber nicht als der Premierminister in die Geschichte eingehen, der Großbritanniens Austritt aus der EU zu verantworten hat.
Der Morgen danach war nicht nur für ihn besonders ernüchternd. 52 Prozent der britischen Wählerinnen und Wähler entschieden sich, bei einer überdurchschnittlich hohen Wahlbeteiligung von 72 Prozent, für den Austritt. Die politische Entscheidung hing von Wohnort, Alter, Bildungsstand und der in Großbritannien immer noch relevanten Klassenzugehörigkeit ab. Junge, gebildete Britinnen und Briten stimmten mehrheitlich für einen Verbleib in der EU. In den Wirtschafts- und Universitätszentren London, Oxford und Cambridge gewann daher »Remain«. In Schottland hat man sich wie erwartet klar für einen Verbleib in der EU entschieden, ebenso in Nordirland. Im Rest des Landes überwog allerdings eine EU-feindliche Stimmung, über alle politische Lager hinweg. Selbst in vielen Wahlkreisen, in denen traditionell die Labour-Partei gewählt wird, stimmte die Mehrheit für den Austritt. Dem Vorsitzenden der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, wird vorgeworfen, er habe sich nicht deutlich genug für die EU ausgesprochen. Klar ist, dass sich ein Teil der Arbeiterklasse gegen die politisch Verantwortlichen in London gestellt hat. Dies zeigt sich auch in ärmeren und ländlichen Gegenden, wo der EU-Austritt bevorzugt wird, obwohl diese Regionen klar von der EU profitieren. So etwa in Wales, das den überwiegenden Teil der Schaf- und Rindfleischprodukte in die EU exportiert.
Während die langfristigen Auswirkungen des EU-Austritts noch nicht abzusehen sind, gibt es bereits einige konkrete Folgen. Cameron kündigte seinen Rückritt als Premierminister bis zum Parteitag der Konservativen im Oktober an, Schottland will sich notfalls von Großbritannien unabhängig erklären und das britische Pfund hat den niedrigsten Wechselkurs seit 1985. Farage freut sich trotzdem über das Ergebnis. Für ihn ist klar: Die Unruhe auf dem weltweiten Aktienmarkt am Tag nach dem Referendum sei völlig unabhängig vom Ergebnis des Referendums, denn die Wachstumsprognosen seien vorher schon dürftig gewesen. Der Austritt aus der EU sei vielmehr die Lösung der wirtschaftlichen Probleme Großbritanniens. Zu viele Wählerinnen und Wähler waren offensichtlich zum gleichen Fehlschluss gekommen.