Viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich für Flüchtlinge. Wer sind sie und was motiviert sie?

Eine Frage der Ehre

Im vergangenen Jahr, als eine hohe Zahl an Flüchtlingen ankam, wurde in den Medien viel über die große Hilfsbereitschaft in Deutschland gejubelt. Bilder von am Bahnhof wartenden Flüchtlingshelfern gingen um die Welt. Tatsächlich brannten nicht nur Flüchtlingsheime in Deutschland, sondern zahlreiche Menschen versuchten auch, Geflüchtete auf die eine oder andere Art zu unterstützen. Doch wer sind eigentlich diese Ehrenamtlichen und was motiviert sie zur Flüchtlingshilfe?

Im »Café International« der evangelischen Flüchtlingskirche in Berlin wird Kuchen gegessen und Kaffee getrunken. Die Besucherinnen und Besucher spielen Tischtennis, vor allem aber unterhalten sie sich. Es herrscht eine Stimmung der vorsichtigen Annäherung. Trotz der Offenheit der Anwesenden ist Distanz zu spüren. Die Veranstaltung findet einmal im Monat in der St.-Simeon-Kirche statt. Hier treffen sich ehrenamtliche Helfer und Helferinnen und Flüchtlinge verschiedener Herkunft, um miteinander angenehm die Zeit zu verbringen.
Auf Nachfrage, welche Menschen hier helfen, entsteht der Eindruck, es handelt sich um einen Querschnitt der deutschen Bevölkerung. »Für mich ist das erstaunlichste Phänomen, dass die ehrenamtlichen Helfer aus allen Schichten kommen: Das sind Ärzte, das sind Lehrer, das sind Kindergärtner«, sagt die landeskirchliche Pfarrerin für Migration und Integration, Barbara Killat. »Das Spektrum bei den Ehrenamtlichen ist genau dasselbe Spektrum, das wir ansonsten in der Bevölkerung haben. Die Helfer haben ganz unterschiedliche Intentionen, die Ehrenamtlichen gibt es nicht.« Wichtig sei Killat zufolge, »Begegnungsräume zu schaffen, wo sich Leute treffen«, dann würden Vorurteile von alleine abgebaut.
An einem an ein Schulpult erinnernden Tisch sitzt ein älterer Mann, der sich auf Englisch ausdauernd mit einem Geflüchteten unterhält. »Die Gespräche sind wichtig«, sagt der britische Ehrenamtliche. Er helfe mit Gesprächen. Man lerne die Menschen kennen, unterhalte sich mit ihnen und gebe ihnen hoffentlich das Gefühl, dass sie willkommen seien. Er erzählt von einem geflüchteten syrischen Journalisten, der häufiger an den Treffen der Flüchtlingskirche teilnimmt und auf einen Praktikumsplatz in Deutschland hofft. Seine glasigen Augen zeigen, wie sehr den älteren Herren die Geschichten berühren, die er von den Geflüchteten zu hören bekommt. Seit November ist er Rentner, weshalb er nach etwas Neuem gesucht hat, seine Zeit sinnvoll zu verbringen. Die Medienberichte machten ihn auf das Flüchtlingsthema aufmerksam. Sein Problem sei jedoch, dass er sich mit vielen politischen Projekten an seinem Wohnort in Berlin-Kreuzberg nicht identifizieren könne. Als Negativbeispiel führt er die Besetzung des Oranienplatzes an, die er als repräsentativ für die politische Einstellung in Kreuzberg sieht. Der Rentner hält es für den falschen Weg, einen Platz zu besetzen, um auf politische Forderungen aufmerksam zu machen. Für ihn ist es sogar kontraproduktiv. Es sei schwer gewesen, ein Projekt zu finden, in dem er sich wohlfühlt, bis er auf die Arbeit der evangelischen Flüchtlingskirche stieß. Seitdem geht er zweimal im Monat zu Treffen wie dem »Café International« und anderen Veranstaltungen.
Er kommt auf die Politik Deutschlands und der EU zu sprechen. Angela Merkel sehe er seit der Flüchtlingsdebatte positiver. Zwar zeigt er viel Empathie für Flüchtlinge und ist von den Geschichten, die er hört tief bewegt, bleibt aber bei der Meinung, dass man nicht jeden ins Land lassen könne. Er spricht von »Obergrenzen für Flüchtlinge« und von »Wirtschaftsflüchtlingen«, die man von »ehrlichen« Flüchtlingen zu unterscheiden habe.
Hilfe aus der Mitte
Bernd Mesovic, der stellvertretende Geschäftsführer der Organisation Pro Asyl, kennt dieses Problem. Er hält regelmäßigen Umgang mit Geflüchteten für die beste Lösung. »Die Menschen, die regelmäßig ihren Alltag mit Geflüchteten verbringen, haben diese Arroganz und Vorurteile nicht« – beziehungsweise bei ihnen würden diese Einstellungen verschwinden. Pro Asyl verzeichnet seit den stark angestiegenen Flüchtlingszahlen im Spätsommer 2015 bis heute konstant steigende Helferzahlen. »Die meisten würde ich als unpolitisch bezeichnen«, so schätzt Mesovic das Gros der Flüchtlingshelfer ein. Viele seien der Mitte der Gesellschaft zuzuordnen. Als schlecht empfinde er dies nicht, da so die breite Bevölkerung in Deutschland involviert werde. Besonders positiv sei ihm aufgefallen, dass viele Ehrenamtliche sich staatlichen Anweisungen verweigerten, als die Behörden versuchten, sich in die Flüchtlingshilfe einzumischen. »Die lassen sich nicht sagen, wem sie zu helfen haben und wem nicht«, sagt Mesovic über die Helfer.
In den neunziger Jahren verlief das etwas anders. Damals waren die Flüchtlingszahlen ähnlich hoch wie im vergangenen Sommer. Eine regelrechte Bewegung wie derzeit entwickelte sich aber nicht, die Hilfe beziehungsweise die Solidarität mit Geflüchteten war eher politisch aufgeladen. Es ging viel um die Abschaffung des Asylrechts und die Auswirkungen der Wende. Viele Flüchtlinge wurden in den Osten geschickt, der damals noch mehr von neonazistischen Strukturen geprägt war als heute. Dagegen demonstrierten vor allem Menschen, die der linken Szene zuzuordnen waren. Heutzutage ist es nicht nur die linke Szene, die an der Stelle einspringt, wo der Staat versagt, sondern auch die bürgerliche Mitte.
Studien über Flüchtlingshelfer gibt es kaum. Die Welt veröffentlichte Teile einer repräsentativen Studie der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vom Dezember 2015. Danach hilft jeder zehnte Deutsche Flüchtlingen ehrenamtlich. 37 Prozent halfen durch Sachspenden. Geld spendeten 17 Prozent. Hilfstätigkeiten, etwa bei der Kleider- und Essensausgabe, gaben 16 Prozent der Befragten an. Das Engagement bei der Vermittlung von Sprachkenntnissen ist mit sieben Prozent schon schwächer, während bei der Kinder­betreuung nur drei Prozent helfen. Die Motive der Helferinnen und Helfer sind unterschiedlich. Nur um den Menschen, der Hilfe braucht, geht es nicht, wie auch das Gespräch mit dem britischen Ehrenamt­lichen zeigt. Persönliche Bestätigung spielt häufig eine wichtige Rolle.
Taten statt Diskussionen
Ein Organisationstreffen der katholischen Studierendengemeinde in Westfalen, die Studierenden wollen Flüchtlingshilfe organisieren. Es geht um Unterstützung bei Behördengängen, beim Erlernen der Sprache und dabei, Anschluss in der neuen Stadt zu finden. Gerade Behördengänge sind nicht nur für Geflüchtete oft problematisch. Ist man der deutschen Sprache nicht mächtig, sind diese häufig unmöglich. Die Verantwortlichen des Treffens hatten geplant, dass jedem Helfer ein Flüchtling nach dem Zufallsprinzip zugeordnet wird. Damit sind nicht alle Helferinnen und Helfer einverstanden. Sie wollen wissen, wer »ihr« Flüchtling ist, da dieser Mensch auch ein Freund werden soll. Es entsteht eine Diskussion darüber, wie die Zuordnung nun funktionieren soll. In Vergessenheit gerät dabei, dass es darum geht, Flüchtlinge bei Behördengängen zu unterstützen. Das Projekt wird nicht realisiert.
In der Kreuzberger Notunterkunft »Lobeckstraße« ist die Stimmung zwischen den Flüchtlingen und den ehrenamtlichen Helfern anders als im Café International. Die Distanz zwischen beiden Seiten ist geringer, Hilfe für die Menschen steht im Vordergrund. Die Notunterkunft befindet sich seit November 2015 in einer Sport­halle mit direkt anschließendem Sportplatz. Circa 200 Menschen leben in dieser Halle in abgetrennten Kabinen, die durch Decken und Vorhänge etwas wohnlicher gemacht werden. Ehrenamtliche Helfer sorgen hier dafür, dass die Menschen mit dem Notwendigsten versorgt werden. Unter anderem organisieren sie Kleidung, Kinderbetreuung und Deutschunterricht.
Ullrich, von Beruf Journalist, hilft zweimal die Woche beim Deutschunterricht. Der besteht aus viel Improvisation, was Ullrich nicht leichtfällt. Er würde lieber mehr planen, doch der Unterricht ist nicht Pflicht, was sich in unregelmäßigen Besuchen und einer ­gewissen Lockerheit widerspiegelt. Lehrer und Schüler sitzen zusammen an ­einer Biertischgarnitur und sprechen über auf Kärtchen abgebildete Gegenstände. Unter den Abbildungen findet sich deren Bezeichnungen in Deutsch und Englisch. »Wenige sprechen Englisch und keiner eigentlich so richtig gut«, erzählt Ullrich. Das macht die Sache schwieriger. Oft unterhält man sich mit Händen und Füßen. Einige Flüchtlinge haben jedoch bereits kurze oder längere Deutschkurse absolviert, sodass es eine Grundlage gibt.
»Private Kontroversen haben mich geärgert«, nennt der Journalist den Grund für seine Entscheidung, als ehrenamtlicher Helfer tätig zu werden. Er sei es leid gewesen, ständig Diskussionen über die Gefahren der hohen Flüchtlingszahlen zu führen. Frustration spielte ebenfalls eine Rolle bei seiner Entscheidung. Er erzählt von Gesprächen mit seinen Eltern, die der Überzeugung seien, dass die Hilfe nichts nütze. Aus diversen Streitgesprächen mit verschiedenen Menschen folgte für Ullrich der Entschluss, dass Diskussionen alleine nichts bringen. »Ich würde meine Zeit lieber effektiv einsetzen«, meint er, er wolle aktiv helfen. »Ich versuche, mich immer in die Personen hineinzuversetzen: Angenommen, ich bin in einem anderen Land, völlig fremde Kultur, spreche die Sprache nicht und müsste mit 200 Menschen zusammenwohnen, die ich mir jetzt auch nicht ausgesucht habe«, so seine Herangehensweise.
Den ehrenamtlichen Helfern schreibt er eine wichtige Rolle zu. »Psychologisch ist für die Leute wichtig, dass hier ab und zu deutsche Ehrenamtliche kommen, mit denen sie Kontakt haben. Das gibt ein anderes Gefühl, als wenn du nur was mit Lageso-Mitarbeitern zu tun hast, die vielleicht auch mal schlechtgelaunt sind, weil sie überfordert sind. Gar nicht als Vorwurf gemeint. Sie nehmen eben eine andere Rolle ein«, so Ullrich. Politisch vertritt er klare Positionen in der Flüchtlings­debatte, er hasse die AfD, sieht aber auch Grenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen: »Meine Einstellung ist nicht so radikal wie die von Pro Asyl, so dass ich sagen würde, Deutschland muss alle Menschen aufnehmen.« ­Allerdings könne man grundsätzlich keinem Menschen absprechen, nach ­einem besseren Leben zu streben. Er spricht von klaren Regeln, die im Rechtstaat Deutschland und der EU gälten. Von »Wirtschaftsflüchtlingen« will er nicht sprechen: »Ich mag den ­Begriff nicht, wie alle Begriffe, die aus der rechtsradikalen Ecke kommen.«
Gutes Gefühl
Stefan aus Montenegro hilft einmal pro Woche bei der Kinderbetreuung in der Notunterkunft in der Lobeckstraße. Er selbst ist erst seit März in Deutschland und absolviert derzeit ein Praktikum im Bundestag bei der SPD. Deutsch spricht er aufgrund seines Germanistikstudium beziehungsweise dank exzessiven Fernsehkonsums als Kind: »In Montenegro gab es nur zwei Fernsehsender, dann hat mein Vater eine Schüssel gekauft und ich habe den ganzen Tag deutsches Fernsehen geschaut.«
Seine Motivation zur Flüchtlingshilfe hat eine persönliche Vorgeschichte. Er erinnert sich an seine Kindheit in den neunziger Jahren, als es wegen des Bürgerkriegs viele Flüchtlinge gab. Als kleines Kind konnte er noch nicht helfen, deswegen hilft er jetzt. Er ist von der Organisation und der Anzahl der Helfer in Deutschland begeistert. So etwas habe er nicht für möglich gehalten.
Für den 22jährigen Tyrone, der eine Ausbildung zum Erzieher absolviert, ist die Flüchtlingshilfe eine Berufung. Er hilft ebenfalls in der Lobeckstraße bei der Kleiderausgabe und der Kinderbetreuung. »Ich weiß nicht, ob ich meine Hilfe für Flüchtlinge als politisch bezeichnen könnte.« Er würde sich auch nicht als politischen Menschen bezeichnen. »Ich bin keiner, der auf die Straße geht und demonstriert.« Er sieht sich berufen zu helfen. Für ihn ist es auch keine Arbeit: »Ich mache das für mich und die Flüchtlinge. Es gibt mir ein gutes Gefühl«. Im Umfeld der Flüchtlinge fühle er sich integriert. »Ich persönlich habe schon immer ein antideutsches Gefühl in mir. Ich fühle mich auch unter den Flüchtlingen heimischer als unter Deutschen.« Während des Gesprächs grüßt ihn eine Gruppe Kinder mit Handschlag. »Die Kinder freuen sich, wenn ich hier ankomme und einige sagen schon ›Bruder‹ zu mir.«
Ein kleines Problem mit seiner Arbeit hat Tyrones Mutter, aber nicht wegen der Flüchtlinge. Ihrer Meinung nach könnte er die Zeit besser mit einem Nebenjob verbringen und Geld verdienen. Die Arbeit in der Notunterkunft ist Tyrone aber mehr wert: »Das macht mich glücklich, oder besser ­gesagt: gesund.«
Mit dem Gros der Flüchtlingshelfer will sich Tyrone nicht identifizieren, sein Engagement kam unabhängig von der medialen Präsenz des Themas. Er sieht manches kritisch. »Für einige ist es ein bisschen zum Trend geworden, es gibt die, die wirklich dahinterstehen, die das mit Freude machen und sich mehr Zeit nehmen und dann gibt es Leute, die es einfach nur machen, um davon erzählen zu können.«