die Studie »Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert«

Feindliche Ausländer

Dieter Gosewinkels Studie über Staatsbürgerschaft im 20. und 21. Jahrhundert hilft zu verstehen, warum es in Deutschland so beliebt ist, Großbritannien zu verachten.

1949, am Beginn einer fast drei Jahrzehnte währenden Phase ökonomischen Wachstums und sozialer Sicherheit in den westlichen Industriestaaten, hielt der britische Sozialwissenschaftler Thomas H. Marshall in Cambridge eine Vorlesung zum Thema »Citizenship and Social Class«. Sie erlangte hierzulande Berühmtheit, weil sich der Soziologe Ralf Dahrendorf 1957 in seiner Habilitationsschrift »Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft« auf sie bezog. Attraktiv war für Dahrendorf der Optimismus, mit dem Marshall, von den migrationspolitischen Verheerungen der Jahrzehnte zuvor scheinbar unberührt, eine Kontinuität des Fortschritts von der Herausbildung bürgerlicher Rechte im 18. Jahrhundert über die Garantie politischer Rechte im 19. bis zur Festschreibung sozialer Rechte im 20. Jahrhundert behauptete.
Hannah Arendts Überlegungen zu den displaced persons, die in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem alliierten Sieg über das nationalsozialistische Deutschland als unwiderleglicher Beweis dafür, dass Menschenrechte nur als Staatsbürgerrechte Geltungskraft besitzen, zwischen den Nationalstaaten hin- und hergeschoben wurden, hatten in Marshalls Lobeshymne auf die Staatsbürgerschaft keinen Platz. Sein Ton war vielmehr bestimmt von der Zukunftsemphase des damaligen Großbritannien – anders als das heutige ein prosperierender Wohlfahrtsstaat, den Dahrendorf seinen Landsleuten als Vorbild empfahl. Der Berliner Neuhistoriker Dieter Gosewinkel, der Marshalls Vorlesung an den Beginn seiner Studie über den Wandel von Staatsbürgerschaft im 20. und 21. Jahrhunderts stellt, zeigt demgegenüber an Marshalls Biographie auf, welche Erfahrungen in dessen Theorie verdrängt wurden. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs war Marshall, der sich als Student in Deutschland aufhielt, als »feindlicher Ausländer« interniert worden und mit dem Land, dessen Staatsbürger er war, nur noch durch diplomatischen Schutz verbunden. Er war so selbst zum Beispiel für die Möglichkeit rechtlichen Ausschlusses geworden, die aus der Differenz zwischen Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit, der Bedingung des Zugangs zu Staatsbürgerrechten, resultiert: Gerade weil er qua britischer Staatsangehörigkeit einer von Deutschland zum »Feindstaat« erklärten Nation zugehörte, wurden ihm die Staatsbürgerrechte versagt.
Ihre volle Bedeutung erhält die Episode mit Marshall erst, wenn sie in Bezug zum Begriff des enemy alien, des »feindlichen Ausländers«, gesetzt wird, dessen Genese Gosewinkel in einem späteren Kapitel skizziert. Während des Ersten Weltkriegs avancierte enemy alien als Kategorie des Fremdenrechts zu einem Mittel des Ausschlusses von Angehörigen kriegsbeteiligter »Feindstaaten«, insbesondere von kriegsgefangenen Soldaten. Die Behandlung von Kriegsgefangenen als enemy aliens wurde während des Ersten Weltkriegs von allen kriegsführenden Staaten praktiziert. Die Suspension staatsbürgerlicher Rechte, der der Brite Marshall zum Opfer fiel, war hingegen Folge einer ursprünglich von Großbritannien selbst ausgehenden und gegen Deutschland gerichteten »systematischen Verschärfung der nationalen Abgrenzungspolitik«, mit der sich, wie Gosewinkel zeigt, eine »Ethnisierung des britischen Staatsangehörigkeitsrechts« vollzogen hatte, die die Ausbürgerung auch ziviler Staatsangehöriger wegen des durch nationale Herkunft begründeten »Verdachts der Illoyalität« ermöglichte. Was wie die Einführung eines regressiven Abstammungsrechts in das fortschrittliche britische Staatsangehörigkeitsrecht anmutet, war tatsächlich eine Reaktion der Briten auf das völkisch motivierte Prinzip der doppelten Staatsangehörigkeit im Deutschen Reich. Die Tatsache, dass die Staatsbürgerschaftspolitik des Kaiserreichs im Falle der Einbürgerung von Deutschstämmigen in einen anderen Staat die Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit erlaubte, wurde von Großbritannien und Frankreich als Strategie zur »Unterwanderung der französischen und britischen Staatsangehörigkeit« interpretiert. Darauf antwortete Großbritannien mit der Institutionalisierung des staatsbürgerrechtlichen Vorbehalts gegenüber deutschen Staatsangehörigen – ein Prinzip, das sich bald verallgemeinerte und zur Erosion der Schutzfunktion des Staatsbürgerrechts beitrug, womit es nolens volens die deutsche Strategie beförderte, gegen die es gerichtet war.
Obwohl Gosewinkel das nicht ausspricht, lassen seine Ausführungen zur Entstehung der Kategorie des enemy alien das Verhältnis von fortschrittlichen und regressiven Aspekten im Staatsbürgerrecht in neuem Licht erscheinen. Die britische Sorge, die deutsche Förderung der doppelten Staatsbürgerschaft trage zur nationenübergreifenden Durchsetzung völkischer Expansionspolitik bei, findet ihr Echo heute in der deutschen Haltung, doppelte Staatsbürgerschaften lediglich als Modus der Institutionalisierung kultureller und ethnischer Klitschen innerhalb der Nationalstaaten zu goutieren. Das scheinbar ungerechte Prinzip der qua Abstammung unterstellten staats­­bürgerlichen Illoyalität erscheint hingegen als frühe und durchaus rationale Antwort auf die apokalyptische Politik der deutschen Schicksalsgemeinschaft, die staatsbürgerliche Loyalitäten gegenüber völkischer Ergebenheit stets hintanstellt – darin nicht unähnlich der hohen Zahl europäischer Muslime, die heute die Gesetze des Islam erklärtermaßen über die Gesetze der Nationalstaaten stellen, deren Bürger sie sind.
Gosewinkel nimmt Staatsbürgerschaft als in Großbritannien und Frankreich im Zuge bürgerlicher Aufklärung begründetes Prinzip in den Blick, das zwar seinem Gehalt nach universal ist, in seiner Geltung aber stets partikular blieb. Welche Konflikte sich ergaben, als nichteuropäische Bevölkerungen das Prinzip der Staatsbürgerschaft auch für sich selbst in Anspruch nahmen, zeigt Gosewinkel an der Dekolonisierung von 1900 bis 1950, die in verschiedenen Staaten Europas unterschiedliche Formen annahm: den Versuch der Verwandlung »imperialer Untertanen« in »nationale Staatsbürger« nach dem Vorbild des Common Law in den ehemaligen Kolonien des British Empire, die in der Stärkung der rechtlichen Selbständigkeit der Dominions seit Ende des Ersten Weltkriegs ihre Grundlage hatte; die Trennung zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerrecht in Frankreich, das mit der Kategorie des »französischen Staats- und Kolonialangehörigen ohne Staatsbürgerrechte« im 19. Jahrhundert eine Entrechtung der Staatsangehörigen in den Kolonien etabliert hatte, die sich während der Dekolonisierung in der Unterscheidung zwischen nachkolonialem indigénat und republikanischer citoyenneté fortschrieb; schließlich die Dehumanisierung der rechtlosen »Eingeborenen« zu »Untermenschen« in Deutschland vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus.
Obwohl er auch die Entwicklung im Osten vom Zarenreich bis zur Sowjetunion im Blick hat, bilden Großbritannien, Frankreich und Deutschland das Zentrum von Gosewinkels Untersuchung. Die Entwicklung des Staatsbürgerschaftsrechts in den Vereinigten Staaten spielt im Kapitel über »Staatsbürgerrechte zwischen Demokratie und Rassestaat« zwischen 1918 und 1945 eine Schlüsselrolle in Hinsicht auf die jüdische Massenmigration, wird aber ansonsten wenig betrachtet. Rechtshistorisch ist das konsequent, beriefen sich die Vereinigten Staaten doch auf die staatsrechtlichen Prinzipien ihres britischen Mutterlandes, die sie dort preisgegeben sahen und unabhängig von diesem einzulösen dachten. Obwohl er dem deutschen Begriff der Zivilgesellschaft durchaus zugeneigt ist, lässt die Lektüre von Gosewinkels Buch jedenfalls keinen Zweifel daran, dass Deutschland sich seit dem 19. Jahrhundert durch Implementierung von Volks- und Gemeinschaftsrechten in das Staatsbürgerschaftsrecht als dasjenige europäische Land erwiesen hat, das der nationalen Souveränität als Garanten staatsbürgerlicher Rechte besonders feindlich gegenübersteht. Großbritannien dagegen, dessen Absage an die Europäische Union hierzulande mit lagerübergreifender Häme über die Sonderlinge bedacht wird, die immer eine Extrawurst wollen, erscheint anhand von Gosewinkels Material als das, wofür es gehasst wird: als staatsbürgerrechtlich fortschrittlichstes Land Europas. Dass Deutschland sich künftig stärker denn je als »Motor« der Europäischen Union gebärden dürfte, kann den Rechtshistoriker da nur gruseln machen.

Dieter Gosewinkel: Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert. Suhrkamp, Berlin 2016, 774 Seiten, 29,90 Euro