Alejandro Grimson im Gespräch über den politischen Wandel und die ökonomische Krise in Argentinien:

»Macri stand für ein neues Projekt«

Alejandro Grimson ist Professor für Sozialanthropologie und Soziologie am Instituto de Altos Estudios Sociales der Universidad Nacional de San Martín in Buenos Aires. Er arbeitet zu den Themen Migration, Rassismus und soziale Ungleichheit in Argentinien und Lateinamerika. Als Kommentator und Analyist des politischen Geschehens schreibt er unter anderem für die argentinische Tageszeitung »Página 12« und für »Le Monde diplomatique«.

Vergangene Woche war der neue argentinische Präsident, Mauricio Macri, zu Besuch in Deutschland. Unter ihm scheint Argentinien zur wirtschaftspolitischen Orthodoxie zurückzukehren. Sie haben diesen Politikwechsel als »Neoliberalismus im Rahmen des Möglichen« bezeichnet? Worin sehen Sie die zentralen Veränderungen?
Argentinien kehrt tatsächlich zum Mainstream zurück: Die Freigabe des Wechselkurses hatte die Abwertung des Peso um die Hälfte zur Folge, was nach konservativen Schätzungen zu einem Kaufkraftverlust der Bevölkerung von zehn Prozent geführt hat und einen gigantischen Einkommenstransfer in Richtung der dominanten Wirtschaftssektoren und der Exportwirtschaft bedeutet. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass in den letzten acht Monaten zwei Millionen Argentinier unter die Armutsgrenze gerutscht sind. Deshalb spreche ich von Neoliberalismus. Aber warum im Rahmen des Möglichen? Nun, die aktuelle Regierung hat die soziale Errungenschaft der dreiseitigen Lohnverhandlungen nicht in Frage gestellt, weil die gesellschaftlichen Bedingungen dies momentan nicht erlauben. Die Löhne sind damit nach den letzten Tarifverhandlungen immerhin noch um 31 bis 38 Prozent gestiegen. Bei einer Inflation von 40 Prozent bedeutet dies zwar einen Kaufkraftverlust, aber dieser fällt deutlich geringer aus, als von der Regierung anfangs angestrebt. Die großen Entwicklungslinien sind also neoliberal, aber Teile der Regierung wollen mit Blick auf die Parlamentswahlen 2017 den gesellschaftlichen Rückhalt nicht verlieren. Die Unterstützung der Regierung ist bereits um zehn bis 15 Prozent zurückgegangen, sie hält sich jedoch aktuell noch bei etwa 50 Prozent. Zwar bewertet die Mehrheit die aktuelle Situation als durchschnittlich oder schlecht, aber es gibt große Hoffnungen, dass sich die Situation verbessern wird.
Woher kommt diese Hoffnung?
Das liegt an einem diskursiven Erfolg der Regierung. Die Regierung führt alle wirtschaftlichen Probleme Argentiniens auf drei einfache Punkte zurück: die Regulierung des Wechselkurses, die fehlende Einigung mit den Hedgefonds sowie die hohen Subventionen für Energie und Transport. Mittlerweile hat die Regierung alle drei Themen angepackt. Dennoch spürt die Bevölkerung, dass es ihr schlechter geht. Die Regierung behauptet, dass sich Argentinien in der zweiten Jahreshälfte erholen wird. Vor ein paar Monaten sagte sie noch, dass Argentinien durchstarten werde, mittlerweile spricht man von schrittweisen Verbesserungen. Der Optimismus schwindet also und die Wirtschaft befindet sich in einer Rezession.
Welche Gruppen leiden am meisten unter dieser Situation?
In Argentinien ist etwa ein Drittel der Arbeiterinnen und Arbeiter informell beschäftigt. Sie profitieren nicht von den Tarifverhandlungen, weswegen sie am meisten unter der aktuellen Situation leiden. Beispielsweise hat sich die Zahl der Menschen, die in comedores populares (Volksküchen) essen, vervielfacht. Auch die Mittelschicht leidet, aber sie hat andere Möglichkeiten, ihren Konsum an die Gegebenheiten anzupassen.
Wie reagieren die Informellen auf die Veränderungen?
Bisher gibt es keine umfassende Mobilisierung. Es sind zurzeit vor allem Kommunalpolitiker, Bürgermeister und andere lokale Akteure, die mehr Ressourcen zur Linderung der sozialen Härten fordern. Natürlich gibt es soziale Bewegungen und Organisationen, aber eine Entwicklung wie zu Beginn der nuller Jahre ist nicht in Sicht. Zum Teil auch wegen der genannten Hoffnung auf Verbesserungen.
Wie erklären Sie sich den Sieg Macris bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr? Sie sprechen von der Notwendigkeit einer kritischen Reflexion. Lag es eher an der Schwäche der Linken als an der Stärke der Rechten?
Wir alle wissen, dass die Rohstoffpreise gefallen sind und dies Argentinien und den Rest Südamerikas stark getroffen hat. Wir alle kennen die Macht der Wirtschaft und der Medien. Wir alle wissen, dass sich in sozialen Transformationsprozessen die Forderungen und Wünsche der Bevölkerung verändern. Aber ich glaube, dass diese Erklärungen partiell bleiben. Sie übersehen eine andere Dimension: Statt eine neue Zukunftsagenda zu formulieren, konzentrierte sich Kirchners Regierung darauf, das Erreichte zu verteidigen. Sie sprach immer von der Vergangenheit. Auf diese Weise konnte Macri die Zukunft besetzen. Er stand für ein neues Projekt, für den Wandel. Es braucht aber auch einen Reflexionsprozess über Sektierertum, über die mangelnde Fähigkeit, politische Allianzen zu schmieden, Nachfolger aufzubauen und ein Zukunftsprojekt zu entwerfen. Ich glaube, dies sind eine Reihe schwerwiegender Probleme, zu denen jetzt noch die Korruption hinzukommt. Aber meiner Einschätzung nach war die Korruption nicht entscheidend für die Wahlniederlage vom letzten November.
Kann der Kircherismo sich von der Niederlage erholen und wieder eine starke politische Kraft werden oder braucht es ein neues linkes Projekt?
Diese Frage spaltet große Teile der antineoliberalen Opposition in Argentinien. Ich sage antineoliberal, weil ein Teil der Opposition, der konservative Peronismus, gegenwärtig mit Macri paktiert. Diese Gruppe will einen nicht-kirchneristischen Peronismus. Diejenigen, die dem Kircherismo und Cristina Kirchner besonders nahestehen, würden wahrscheinlich antworten, dass die Aufgabe ist, das Erreichte und die Figur Cristina Kirchner zu verteidigen. Meine Antwort weicht davon ziemlich deutlich ab. Ich glaube, dass die primäre Aufgabe darin besteht, sich zu fragen, wie der Großteil der errungenen Rechte verteidigt werden kann. Das ist das zentrale Problem. Es geht nicht darum, für oder gegen den Kirchnerismo zu sein, sondern darum, wie die Rechte verteidigt werden können. Wenn die Kirchneristas diese Frage ins Zentrum rücken, werden sie eine mehr oder weniger zentrale Rolle spielen. Denn sie sind weiterhin eine relevante soziale Kraft. Ich beobachte aber, dass der Kirchnerismo zu sehr mit der eigenen Zukunft und der Zukunft von Cristina Kirchner beschäftigt ist, und ich glaube, dass diese Sorge sich gegen ihre eigene Zukunft wendet.
Wie sieht es mit anderen Rechten aus? Zum Beispiel bei den Geschlechterverhältnissen und den Menschenrechten?
Bezüglich der Geschlechterverhältnisse: Aus meiner Sicht steht eine Veränderung der wichtigsten Gesetze nicht auf der Agenda der Regierung. Das würde viele Probleme schaffen und die Regierung hat derzeit andere Sorgen. Ihre Prioritäten liegen im Bereich der Wirtschaft. Allerdings hat die vorherige Regierung nicht nur Gesetze verabschiedet, sondern auch Institutionen aufgebaut und eine Reihe von Programmen auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft und in den Schulen auf den Weg gebracht. Hier gibt es verschiedene Fälle, in denen diese Programme entweder gestoppt oder stark geschwächt wurden. Ein Beispiel ist der Sexualkundeunterricht.
Das Thema Menschenrechte ist anders gelagert, weil der Kirchernismo es zum Aushängeschild der eigenen Politik gemacht hat. Kein Mitglied der aktuellen Regierung hat sich in diesem Bereich jemals hervorgetan. Der neue Kulturminister der Stadt Buenos Aires hat vor einigen Monaten gesagt, dass die Zahl der »Verschwundenen« übertrieben werde und erfunden wurde, um Entschädigungen zu erhalten. Und das, obwohl die Schätzung von 30 000 »Verschwundenen« noch auf die Zeit der Militärdiktatur selbst zurückgeht, als es keine Entschädigungen gab. Aber das Schlimmste ist, dass der Regierungschef diesen Minister weiter deckt. Ich will nicht übertreiben, ich sage nicht, dass die Mehrheit der führenden Politiker der Regierung diese Position vertritt. Aber die Führung der aktuellen Regierung weist die Aussagen des Kulturministers der Stadt Buenos Aires nicht zurück.
Sie sagen, dass Niederlagen ein guter Zeitpunkt zur Reflexion sind. Was lässt sich lernen?
Ja, ich glaube, das ist die Herausforderung. Genauso wie Gramsci aus der Niederlage gelernt hat. Ich glaube, dass wir Lateinamerikaner viel aus den Niederlagen in Lateinamerika, von denen einige bereits geschehen sind und andere unausweichlich bevorstehen, lernen müssen. Ein zentraler Punkt besteht darin, ein nachhaltigeres und weniger vom Weltmarkt abhängiges Wirtschaftsmodell zu entwerfen. Ich sage nicht, dass wir keine Einbindung brauchen, aber wir müssen dieses Problem stärker beachten. Und wir müssen im Blick haben, dass sich Gesellschaften unweigerlich spalten, sobald Fortschritte bei Umverteilungsprozessen erzielt werden. Wenn wir wollen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich einen größeren Anteil des Reichtums des Landes aneignen kann, müssen wir diese Spaltungslinie politisch klug ziehen. Denn die Fähigkeit, Wahlen zu gewinnen, ist eine Bedingung für die Nachhaltigkeit dieser Projekte. Und wenn diese Fähigkeit verloren geht, müssen wir uns fragen, welche Fehler korrigiert werden müssen. Ich glaube, dass wir ehrlich, ohne Angst und mit viel Engagement, eine neue Agenda für die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Herausforderungen Lateinamerikas entwerfen müssen.