: Der IS-Terror schlägt erneut im Herzen Bagdads zu

Verbrennen oder ertrinken

Nach dem verheerenden Anschlag in einem Ausgehviertel in der irakischen Hauptstadt Bagdad scheint jede Hoffnung auf ein einiger­maßen normales Leben im Land verloren zu gehen. Auch im Kampf gegen den »Islamischen Staat« wird brutal gegen Zivilisten vorgegangen.

Zum ersten Mal seit langem gab es im Irak wieder so etwas wie ein Gefühl des Zusammenhalts: Nach dem Anschlag auf ein Einkaufszentrum in Bagdad herrschte im Land sprachloses Entsetzen, ob im Süden in Basra, im kurdischen Suleymaniah, in Flüchtlingslagern oder in yezidischen Dörfern, überall wurden Kerzen für die Opfer angezündet und Gedenkminuten abgehalten.
Der Terror hatte ins Herz Bagdads gezielt, gerade das Stadtviertel Karrada gilt als Ausgehmeile, in der sich noch immer Menschen aus allen Gruppen der ansonsten so tief gespaltenen ira­kischen Gesellschaft treffen und auch gemeinsam amüsieren können. Kurz vor dem Ende des Ramadan sprengten sich Anhänger des »Islamischen Staats« (IS) in dem beliebten Einkaufs- und Vergnügungszentrum in die Luft, zerstörten dabei fünf Gebäude fast völlig, rissen 300 Menschen mit sich in den Tod und verletzten 1 000 weitere. Die meisten derer, die Samstagnacht lebendig verbrannten oder von der Explosion des mit Sprengstoff gefüllten Lastwagens in Stücke gerissen wurden, waren jung, viele stammten aus der aufstrebenden Mittelschicht und kannten die Zeit der Diktatur Saddam Husseins nur noch als ferne Kindheitserinnerung. In dem Inferno starben etwa der Tänzer Adel Euro, der erst vor wenigen Monaten seinen ersten Auftritt in Jordanien hatte, sowie der kürzlich graduierte Jurist Adnan Safa, der zusammen mit einem Bruder und seinem Vater unterwegs war. Nach dem Anschlag blieben nur ausgebrannte Ruinen, deren Aussehen an Gebäude in Aleppo oder Idlib in Syrien nach monatelangem Bombardement durch die russische und syrische Luftwaffe erinnert. Immer größere Teile des Nahen Ostens verwandeln sich in rasantem Tempo in postapokalyptisch anmutende Trümmerlandschaften.
Der Vielfrontenkrieg, egal ob im Irak, in Syrien oder dem Jemen, richtet sich längst vor allem gegen Zivilisten, deren Leben für keine Seite von Bedeutung ist. Dies gilt für Bombenanschläge in Bagdad oder in Städten wie Falluja, die jüngst zwar mit Hilfe schiitischer Milizen und der US-Luftwaffe von den Besatzern des »Islamischen Staats« befreit wurde, aus der aber fast die gesamte Bevölkerung geflohen ist. Über 900 Jungen und Männer sollen nach Angaben des UN-Menschenrechtskommissariats dabei von schiitischen Milizionären entführt, gefoltert und zum Teil enthauptet worden sein. Hunderttausende Flüchtlinge, auch aus Falluja, vegetieren unter unmenschlichen Lebensbedingungen in Notunterkünften dahin, eine Perspektive auf baldige Rückkehr haben sie nicht. Derweil bombardieren russische Flugzeuge Stadtviertel in Aleppo mit weißem Phosphor und international geächteter Streumunition. So wachsen überall täglich Verzweiflung, Not, Hass und Angst, ohne dass eine Perspektive auf Veränderung in Sicht ist.
Und während in diesen Tagen Irakerinnen und Iraker in ihrer Trauer nach den Anschlägen von Karrada zusammenfinden, unternehmen die verschiedensten Terrororganisationen und Milizen alles, um die Spannungen im Land weiter anzuheizen, denn nur inmitten eines konfessionalisierten, blutigen Konfliktes können sie sich weiter an der Macht halten.
So sehr man in Bagdad den IS auch hasst, der sich inzwischen zu dem Anschlag bekannt hat, macht man doch vor allem die korrupte und allseits unbeliebte irakische Regierung von Ministerpräsident Haider al-Abadi verantwortlich, gegen die in den vergangenen Monaten Hunderttausende Menschen demonstrierten. Ohne Erfolg. Kein Wunder, dass der irakische Ministerpräsident laut ausgebuht und mit Schuhen beworfen wurde, als er den Ort des Schreckens in Karrada besichtigen wollte. Bis heute etwa verwenden irakische Sicherheitskräfte Bombendetektoren, von denen seit Jahren bekannt ist, dass sie nicht funktionieren; ein findiger britischer Geschäftsmann hatte dem Irak Attrappen angedreht.
Auch wenn Terror und Tod in Bagdad zum Alltag gehörten, versuchten viele bislang, dem Schrecken indivi­duell die Stirn zu bieten, und wo immer möglich, das Leben zu genießen, auszugehen, weiterzumachen. Damit scheint vorerst Schluss zu sein. Ein irakischer Bekannter schrieb kurz nach den Anschlägen, dass die Stimmung in der Stadt noch nie so gedrückt und traurig gewesen sei wie jetzt. Auch er denke nun darüber nach, den Irak zu verlassen. »Wir haben die Wahl«, fuhr er fort, »in Bagdad zu verbrennen oder im Mittelmeer zu ertrinken. Ich glaube, ich ziehe Ertrinken vor.« Am Dienstag gab es nahe Bagdad erneut einen Anschlag mit mindestens neun Toten.
Dem kurdischen Nachrichtenportal Basnews zufolge sind für den 20. Juli landesweit Proteste gegen die irakische Regierung geplant, die es nicht schaffe, die Bevölkerung vor Terroranschlägen zu schützen. Zu diesem »Aufstand der Hungrigen« würden zehn Millionen Menschen erwartet.