María Galindo über Frauenrechte in Bolivien

»Die Regierung wollte niemals die Depatriarchalisierung«

María Galindo, geboren 1964, lehrt Soziologie an der Universität von San Andrés, ist Schriftstellerin und Autorin sowie Radio- und Fernsehmoderatorin. 1992 gründete sie mit Mónica Mendoza und Julieta Paredes »Mujeres Creando«, ein anarchofeministisches Kollektiv, das mit der Zeitung »Mujer Pública«, Straßentheater und direkten Aktionen vor allem gegen sexualisierte Gewalt und Homophobie kämpft. Ein Motiv für die Gründung war die konservative Haltung der traditionellen Linken in Fragen der Sexualität und der Frauenrechte.

Sie haben in Bolivien die »Depatriarchalisierungsthese« aufgestellt. Was besagt diese?
Der Kolonialismus ist nicht nur eine Machtbeziehung zwischen einem Teil der Welt und dem anderen, der Versklavung und Entwertung. Diese Art von Kolonialismus ist nur möglich durch die Unterwerfung der Frau. In diesem Sinne kann man nicht dekolonialisieren, ohne zu depatriarchalisieren.
Hat die Regierung der Partei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) dies auch umgesetzt?
Das einzige, was die Regierung mit meiner These gemacht hat, ist, sie zu kopieren und das Staatssekretriat für Depatriarchalisierung zu gründen, um Verwirrung zu stiften. Die Regierung des MAS wollte niemals wirklich die Depatriarchalisierung, das sind nur rethorische Spiele für sie. Die Depatriarchalisierungsthese ist keine These des Staates, sondern richtet sich gegen diesen. Sie geht von einem historischen Moment aus, in dem sich Frauen in Bolivien, auf dem lateinamerikanischen Kontinent und eigentlich der ganzen Welt befinden.
Von welchem historischen Moment sprechen Sie?
Vom Moment der Rebellion gegen vielfältige Machtstrukturen und die Kolonialisierung unserer Körper und unseres Lebens. In diesem Sinne ist beispielsweise der Kampf gegen die Kriminalisierung der Abtreibung ein Kampf um Depatriarchalisierung, weil er eine Dekolonialisierung der Körper anstrebt. Und genau diesen Kampf hat die MAS-Regierung gebremst, weil er nicht mit der Pachamama (Mutter Erde, Anm. d. Autors) im Einklang stünde, als richte er sich gegen die Prinzipien der indigenen Weltanschauung, was absolut falsch ist. Wir beanspruchen die Depatriarchalisierung natürlich auch hinsichtlich des kulturellen Ungehorsams, der von den indigenen Frauen selbst ausgeht, um Einspruch zu erheben gegen die patriarchale Dominanz, die selbst innerhalb der indigenen Welt besteht. Das sind Formen des Ungehorsams, die sich in erster Linie darin ausdrücken, dass Frauen gehört werden wollen in ihrem Anspruch auf existentielle Rechte.
Was hat sich in den zehn Jahren der Regierung von Präsident Evo Morales für Frauen in Bolivien geändert?
Es gab drei wesentliche Änderungen. Die erste ist der Juana-Azurduy-Mutterschaftsbonus, bei dem Müttern bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres des Kindes insgesamt bis zu 2 000 Bolivianos (umgerechnet 260 Euro, Anm. d. Autors) zustehen. Dafür müssen sie sich pränatalen Untersuchungen unterziehen, in öffentlichen Krankenhäusern gebären sowie nach der Geburt diverse frühkindliche Untersuchungen billigen. Man achtet die Frau lediglich in ihrer Reproduktionsfunktion, deshalb finden wir den Bonus beleidigend.
Was ist die zweite Änderung?
Das zweite Element ist die Geschlechtergleichheit in der politischen Repräsentation. Diese wird propagiert von Organisationenen wie der Uno und der Weltbank, sie ist daher vor allem wirtschaftsliberale Politik. Das einzige, was Morales gemacht hat, war, den Anteil der Frauen in der politischen Repräsentation von 30 auf 50 Prozent zu erhöhen. Das klingt erstmal nach einem Fortschritt, aber wenn man bedenkt, dass dies Elemente wirtschaftsliberaler Politik sind, dann sieht das Bild ganz anders aus. Frauen können in diesem Kontext keine autonomen Subjekte sein, sondern nur die patriarchalen Visionen des Staates und der Politik stärken und vervollständigen.
Und dies steht immer in Beziehung zur Rolle der Frau innerhalb der typischen bolivianischen Familie?
Nicht nur hinsichtlich des Familienbildes, sondern auch hinsichtlich der Treue gegenüber dem caudillo, der Unterwerfung unter die Partei und die politische Organisation. Wenn man die Frauen fragt, bekommt man meist dieselben Antworten. Sie fühlen sich, als habe man ihnen einen Gefallen getan, und meinen deswegen, sie seien der Partei etwas schuldig.
Das dritte Element ist das Gesetz 348. Es wurde beschlossen, um den Frauen ein Leben ohne machistische Gewalt zu ermöglichen. Mit den neoliberalen Reformen in den achtziger Jahren war mit Hilfe von internationalen Organisationen bereits Ähnliches implementiert worden. Es gab ein Gesetz gegen die häusliche Gewalt. Die MAS-Regierung hat es durch ein neues ersetzt, das einige wichtige Aspekte beinhaltet, beispielsweise die Anerkennung verschiedener Gewaltformen. In diesem neuen Gesetz wurde auch die Bezeichnung Feminizid gebraucht. Es behandelt jegliche Art von machistischer Gewalt als Straftat, doch arme Frauen, die sich keinen Anwalt leisten können, haben keinen Zugang zur Justiz.
Spielen strukturelle Probleme der bolivianischen Justiz eine Rolle?
Die bolivianische Justiz ist korrupt und diskriminierend. Eine Frau als Opfer in einem Strafverfahren wegen patriarchaler Gewalt muss ihre »Unschuld« beweisen, ihren »tadellosen Lebenswandel«, damit ihr keine Mitschuld gegeben wird. Zudem muss sie, da von staatlicher Seite nicht ermittelt wird, die horrenden Kosten einer privaten Untersuchung bezahlen. Vorher waren die Gesetze zu schwach, heutzutage ist es unmöglich, sie umzusetzen. Frauen konnten nie und werden unter einer solchen Justiz auch nie Gerechtigkeit erfahren.
Wir leben in einer Notstandssituation. In Bolivien gab es im vergangenen Jahr 130 Frauenmorde. Statistisch gesehen, wird in Bolivien jeden dritten Tag eine Frau ermordet. In nicht einmal zehn Prozent dieser Fälle gab es ein Urteil. Das Leben einer Frau scheint nicht wichtig zu sein, und wenn die Frau auch noch arm ist, scheint ihr Leben noch weniger wert zu sein. Es gibt keine adäquaten Bedingungen, um Autopsien durchzuführen. Deswegen sagen wir, dass der Frauenmord ein Verbrechen des Staates ist. Der Staat garantiert die Straflosigkeit der Täter. Und wenn wir das so deutlich äußern, bedeutet das für uns Stigmatisierung. Es heißt, wir seien verrückt, wir seien radikal, wir seien rechts. Aber wir sind Feministinnen, wir sind Frauen der Linken, und uns interessiert eine wirkliche gesellschaftliche Transformation. Ein weiteres Problem: Die Ärmsten in Bolivien sind junge Mütter mit Kindern, deren Väter oft keine Verantwortung übernehmen. Nichts hat sich diesbezüglich geändert.
Inwiefern ist das die Verantwortung der Regierung?
Es gibt keine sexuelle Aufklärung in Bolivien. Es gab eine Bildungsreform im Jahr 2010, in der es mehr als nötig gewesen wäre, sexuelle Aufklärung einzubeziehen. Dies ist ein Grund dafür, nicht der einzige wohlgemerkt, warum Frauen nicht in einem autonomen Prozess der sexuellen Emanzipation Souveränität über ihren eigenen Körper erlangen können. Das Bildungssystem bereitet junge Frauen einfach nicht darauf vor. Zudem liegt es in der Verantwortung der Regierung, gegen die Diskriminierung vorzugehen. Eine junge Schwangere wird in der Schule stigmatisiert und isoliert oder sogar der Schule verwiesen. Ein Mann, der kein verantwortungsvoller Vater ist, hat nur die Verpflichtung, 300 Bolivianos (umgerechnet 35 Euro, Anm. d. Autors) im Monat zu bezahlen, wenn überhaupt. Wäre das anders, müsste der Mann es sich dreimal überlegen, zu verlangen, dass eine junge Frau eine Schwangerschaft austrägt. Eine gängige Form der männlichen Dominanz ist, von der Frau ein Kind zu verlangen, weil der Mann genau weiß, dass die Frau dann weniger Zeit für sich selbst hat, abhängig wird, et cetera. Deswegen glaube ich, dass es hier auch eine Verantwortung des Staates gibt.
Was würde sich denn bei einem Regierunsgwechsel ändern?
Mit der MAS-Regierung geht es Frauen nicht gut, aber mit anderen Regierungen, beispielsweise den Rechten, die einen Rückschritt in Richtung Wirtschaftsliberalismus wollen, wäre es noch viel schlimmer. Was haben wir da noch zu verlieren? Zeit, Freude und Ressourcen! Aber die werden wir nicht verschenken. Ich glaube nicht, dass die Regierung die Probleme, die ich erwähnte, ernst nimmt.
Was sind die Antworten der »Mujeres Creando«?
Ich glaube, dass es in Lateinamerika sehr wichtig ist, sich nicht von Regierungsparteien kooptieren zu lassen und autonome soziale Räume der kollektiven Selbstverwaltung zu schaffen. Die Gesellschaft ist mehr als der Staat, und deswegen gibt es viel mehr Lösungen, die die Gesellschaft bieten kann, weit über den Staat hinausgehen.