In der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung spielte die soziale Frage eine große Rolle. Das hat sich geändert

Die Fixierung auf Rassismus

»Black Lives Matter« und die neue US-amerikanische Studenten­bewegung reproduzieren in vielen ihrer Aktionen und Aussagen die Trennung von politisch-kulturellem und sozialem Kampf.

Als Walter White in der Fernsehserie »Breaking Bad« dem Chefarzt gegenübersitzt, der ihm die niederschmetternde Lungekrebsdiagnose stellt, ist dieser ein Schwarzer. Und als sich »True Detective« Rust Cohle vor einer polizeilichen Untersuchungskommis­sion für einen alten Fall rechtfertigen muss, sitzt er zwei schwarzen Kollegen gegenüber. Man könnte sich nun denken, Hollywood wolle sich unangreifbar machen und präsentiere als Ausweis seiner gesalbten Liberalität schwarze Schauspieler in den Rollen erfolgreicher Aufsteiger.
Aber das wäre zu kurz gedacht: Es gibt sie nämlich wirklich, die schwarze Mittelschicht in den USA. Vor 50 Jahren, mit dem Beginn der Verabschiedung von Bürgerrechtsgesetzen, der Aufhebung der in vielen Bundesstaaten geltenden Segregationsgesetze und der Einführung eines als affirmative action bekannten Maßnahmenkatalogs, um schwarzen Bürgern besseren Zugang zu Bildung und Jobs zu verschaffen, wurden die Grundlagen für diesen Aufstieg ­gelegt. Daran gemessen ist die schwarze Mittelschicht, die relativ gesehen immer noch viel kleiner ist als die weiße, sehr dynamisch. Man könnte von einer Erfolgsgeschichte sprechen, nicht mal der reaktionärste republikanische Kandidat denkt auch nur eine Sekunde daran, die Bürgerrechtsgesetzgebung zu kassieren (in den fünfziger und sechziger Jahren waren es übrigens Südstaaten-Demokraten, die sich als halsstarrige Rassisten erwiesen).
Aber von einer Erfolgsgeschichte will derzeit niemand etwas hören. Die Polizeigewalt gegen Schwarze in allen Landesteilen der USA gilt nicht nur Linken als Ausdruck eines ungebrochenen Rassismus. An den Universitäten formiert sich eine neue Studentenbe­wegung, die auch in den Symbolen der Institutionen und in den Erzeugnissen der geisteswissenschaftlichen Fakultäten systematischen Rassismus am Werk sieht. Selbst Bernie Sanders, der zum ersten Mal seit Eugene V. Debs – und das war vor 100 Jahren! – Sozialismus als positiv besetzten Begriff in den politischen Mainstream einführen konnte, steht unter Legitimationszwang, sprach er doch angeblich lieber von Arbeiterrechten als von diskriminierten Schwarzen und machte sich dadurch verdächtig.
Es ist allerdings falsch, von einer rassistischen Kontinuität als hegemonialer Struktur in der Entwicklung der USA zu sprechen. Diese Rede klingt radikal und zornig und auch ein bisschen verzweifelt. Sie blendet jedoch aus, was in den vergangenen 40, 50 Jahren tatsächlich passiert ist und welche Rolle Rassismus dabei spielt. Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King Jr. in Memphis erschossen, er war dort, um sich dem »Poor People’s March« anzuschließen und seine Solidarität mit ­einem Streik der Müllabfuhr zu bekunden. Einer der wichtigsten Berater von King in dieser Zeit war Bayard Rustin, ein früherer Kommunist und in den Sechzigern immer noch überzeugter So­zialist. Rustin und King war klar, dass die Bürgerrechtsbewegung auch eine soziale ist, dass es darum geht, Reichtum umzuverteilen, das Recht auf gute Arbeit für alle zu fordern und überhaupt das Arbeitsleben demokratischer zu gestalten, um der politischen Gleichberechtigung eine solideres Fundament zu verleihen. Dieser klassenbewusste Impuls der Bürgerrechtsbewegung kam nicht mehr zur Geltung: Nach 1968 fand eine politische, auch eine kulturelle Emanzipation der Schwarzen statt, aber keine soziale. Dennoch hatte diese Emanzipation ­soziale Auswirkungen: Die schwarze Mittelschicht entstand, das schwarze Proletariat geriet ab Mitte der siebziger Jahre in den Strudel der Deindustrialisierung und verelendete. Der Soziologe William Julius Wilson spricht von zwei schwarzen Amerikas; die black community hörte faktisch auf zu existieren.
An dieser Stelle kommt der Rassismus ins Spiel. Der Aufstieg vieler Schwarzer sorgt in der Mittelschicht für Konkurrenzdruck, politisch übersetzt sich dieser in die konservativ-libertäre Dauerkritik an der affirmative action. Deren Gesetze und Maßnahmen gelten vielen Konservativen als Verstoß gegen die Leistungsgerechtigkeit, als Kollektivismus und positiver Rassismus. Die schwarzen Aufsteiger werden in diesem rassistischen Diskurs permanent an ihre Herkunft erinnert, eine fundamentale Unsicherheit wird ihnen vor Augen geführt, ihnen wird vermittelt, dass ihr Aufstieg nur von Staates Gnaden möglich war. Dass unter den von Polizisten erschossenen Schwarzen auch Angehörige der Mittelschicht waren, bestätigt diese Unsicherheit: Offensichtlich sind die Polizisten wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass auch sie zu den potentiell gefährlichen, potentiell kriminellen Subjekten der schwarzen Unterschicht zählen.
Affirmative action wirkt aber auch nach unten. Wer den Aufstieg nicht schafft, obwohl es doch ihn bevorzugende Gesetze gibt, ist selbst schuld. Mehr noch, dass eine schwarze Unterschicht existiert, innerhalb deren Vierteln es permanent zu schweren Gewaltverbrechen kommt und zahllose Drogen konsumiert werden, erscheint nicht nur Konservativen als geradezu unamerikanisch: Warum nutzen diese Schwarzen die Chancen nicht, die ihre politischen Führer in den sechziger Jahren erstritten haben? Das ist der Übergang zur Naturalisierung der Armut. So zieht sich in den Augen des weißen Amerika das Subproletariat zu einem einzigen gefährlichen Kollektivsubjekt zusammen, dem man nicht mehr rational begegnen kann, sondern auf dessen Repräsentanten man lieber zu früh als zu spät schießt.
Es ist offensichtlich, dass der Rassismus in den USA nicht überzeitlich und kontinuierlich ist und erst recht nicht postkolonial, sondern eine Variable innerhalb der Entwicklung des amerikanischen Kapitalismus: Er legitimiert die Existenz einer abgehängten Unterschicht und fungiert als Druckmittel in der Mittelschicht bei ihren Verteilungskämpfen um Arbeitsplätze und Ressourcen. Diese beiden Momente des Rassismus vereinen sich in der sozialen ­Figur des Polizisten, für den der schwarze Mann, egal ob erfolgreich oder nicht, per se als gefährliches Subjekt gilt.
Es ist naheliegend für Aktivisten, die gegen diese Polizeigewalt vorgehen, den Rassismus als zentrales Motiv im Handeln der Polizei auszumachen. Er ist aber Resultat einer gewaltförmigen ökonomischen Entwicklung (so wie einst die Sklaverei den amerikanischen Rassismus hervorgebracht hat und nicht der Rassismus die Sklaverei). Wer auf den Rassismus fixiert ist, dem gerät das ökonomische Zwangsverhältnis aus Konkurrenz und Abschottung aus dem Blick. Und der Rassismus wird mystifiziert – das kann man bei der neuen amerikanischen Studentenbewegung beobachten, deren Konzept von Critical Whiteness längst auch in der hiesigen Linken für Irritationen sorgt. Die schwarzen Studentinnen und Studenten der Eliteuniversitäten teilen mit dem schwarzen Subproletariat bloß noch Erfahrungen von Rassismus. Rassismus erweist sich als einziges Band, das oben und unten verbindet. Weil es keine unmittelbaren sozialen Anknüpfungspunkte mehr gibt, hält Rassismus dafür her, eine ganze Identitätspolitik auf ihn zu gründen. Von diesem Standpunkt aus erweisen sich die Universitäten schlagartig als Brutstätten immer subtilerer Formen des Rassismus, die angeblich immer tiefere Traumata bei den betroffenen Studenten auslösen. Diese Überidentifikation mit dem Rassismus dient der Rückversicherung ­einer Community, die es so nicht mehr gibt. Sie hat einen rationalen Kern. Denn ökonomisch sind die weißen Studenten nach wie vor deutlich besser gestellt, sie erhalten größere finanzielle Unterstützung durch ihre Eltern und können mit weniger Schulden das Berufsleben beginnen; umgekehrt sind viele schwarze Eltern im Alter darauf angewiesen, dass ihre Kinder dank ihrer erfolgreichen Abschlüsse sie finanziell unterstützen. Der Aufstieg der schwarzen Mittelschicht bleibt prekär und hält die Sehnsucht nach einer Community wach, die Rückhalt und Solidarität gewährleisten soll.
Zum jetzigen Zeitpunkt scheinen »Black Lives Matter« und die neue Studentenbewegung in vielen ihrer Ak­tionen und Aussagen die Trennung von politisch-kulturellem und sozialem Kampf, die für Martin Luther King Jr. nicht in Frage kam, zu reproduzieren. Wie gut, dass Donald Trump die Bühne betreten hat, immer für einen rassistischen oder sexistischen Ausfall gut. Aber auch Trump wird nicht hinter die sechziger Jahre zurück können. Würde er Präsident, wäre sein Programm kein rassistisches, sondern eine noch bru­talere Ausgrenzung der Armen. Die soziale Frage wird den Antirassisten nicht erspart bleiben.