Ein Bericht aus dem Weltsozialforum in Montreal

Ein ziemlich blasses Forum

Das Weltsozialforum, das in diesem Jahr in Kanada stattfand, hat an Bedeutung verloren. Teilnehmende aus Entwicklungs- und Schwellenländern blieben unterrepräsentiert. Eine willkommene Plattform bot es jedoch der antiisraelischen BDS-Kampagne.

Es ist ein lauer Abend im August auf einer der kleinen, mit Holzplanken eingezäunten Terrassen zwischen Gehsteig und Straße in der rue Sainte-Catherine im rustikalen Kneipenviertel von Montreal. Gleich um die Ecke gibt es Cowboystiefel, Lederhüte und karierte Baumwollhemden zu kaufen. Laut Gesetz darf in Kanada drinnen nicht geraucht und draußen kein Alkohol getrunken werden. Das kann schnell ­ungemütlich werden. Die eingezäunten Außenareale sind eine Notlösung fin­diger Kneipiers, damit die Gäste draußen Alkohol konsumieren können. Zum Rauchen muss man sich allerdings, darauf weisen Schilder hin, mindestens neun Meter von den Terrassen entfernen.
Gerade diskutieren wir, wie man es schafft, dass sich Raucher und Nichtraucher unserer Runde dennoch weiter unterhalten können, als sich in der rue Sainte-Catherine eine Eskorte von Uniformierten auf gigantischen weißen, bunt blinkenden Motorrädern nähert. »Was denkt ihr, was ist es dieses Mal?« fragt eine Kollegin. »Die Dykes on Bikes oder die BDS-Leute?« Die Frage ist schnell beantwortet, denn schon hört man die Rufe: »Boycott Israel! Free ­Palestine!« Die Uniformierten sind Polizisten. Sie begleiten ein Grüppchen von etwa 100 Menschen, das zum Boykott Israels auffordert. »Komm, lass uns lieber mal bestellen«, sagt eine andere Kollegin, als die Bedienung sich nähert. »Pale Ale or Mad & Noisy?« fragt diese zurück, als wir Bier verlangen. Wir entscheiden uns für Mad & Noisy.
Pale, blass, hingegen ging es in den vergangenen Tagen ein Stück weiter in der rue Sainte-Catherine im Universitätsviertel zu. Dort fanden vom 10. bis zum 12. August die Streams, die thematischen Blöcke, des 12. oder 14. Welt­sozialforum (WSF) statt, das vom 9. bis 14. August dauerte. Es könnte auch das 13. Forum gewesen sein, aber weil diese Zahl, wie die Kanadier und Kanadierinnen glauben, Unglück bringt, gibt es niemals einen Knopf für den 13. Stock in den Aufzügen kanadischer Gebäude und eben auch kein 13. WSF in Kanada. Wichtiger als diese Kuriosität ist allerdings, dass es das erste WSF war, das in einer Stadt des Nordens ausgerichtet wurde – eine Entscheidung, die im vergangenen Jahr während des WSF in Tunis vom Internationalen Rat des Forums gefällt wurde und deren Umsetzung, kurz gesagt, grandios gescheitert ist.
Wie bereits in Tunis von vielen WSF-Teilnehmern aus dem Süden befürchtet, sollen, einer Erklärung der Organisation Mayfirst zufolge, fast 70 Prozent der erwarteten Teilnehmer aus Afrika, Asien und Lateinamerika kein Visum für Kanada erhalten haben. Namentlich bekannt sind 230 Menschen, denen die Einreise verweigert worden war, darunter sechs Parlamentarier aus Afrika und Asien, 20 Mitglieder von Mayfirst sowie alle zehn Vertreter und Vertreterinnen der Plattform der Assozia­tionen subsaharischer Transitmigranten in Marokko. Diejenigen, die ein Visum ergattern konnten, beschweren sich über den demütigenden Prozess der Beantragung. Rosa Nelly Santos vom »Komitee der Angehörigen verschwundener Transitmigranten aus Honduras« (Cofamipro) etwa berichtet, sie habe über 100 Fragen beantwortet, »unter anderem, warum ich meinen inzwischen verstorbenen Ehemann erst 20 Jahre, nachdem unsere Kinder auf der Welt waren, geheiratet habe«.
Diesem Prozedere wollten sich offenbar viele Menschen gar nicht erst unterziehen oder sie konnten die hohen Kosten für die Anreise und den Aufenthalt nicht aufbringen. Denn blass war das Forum vor allem, weil die Mehrheit der Teilnehmenden weiß war und aus Nordamerika oder Europa kam. »Wilkommen beim ersten Erste-Welt-Forum«, rief Naomi Klein daher passenderweise zur Eröffnung ihres Beitrags auf der Hauptabendveranstaltung zum Thema Klimagerechtigkeit dem Publikum zu. Das WSF, das sich ja bereits seit längerem in einer Sinnkrise befindet, hat mit der Entscheidung für Kanada jene strukturell ausgeschlossen, für die es immer noch ein wichtiges Treffen für Vernetzung, Austausch und Politisierung bildete. Das betrifft Mitglieder von Basisorganisationen, so­zialen Bewegungen und Gewerkschaften vor allem aus Afrika und Lateinamerika, für die globale Mobilität nicht so selbstverständlich ist, wie für Globalisierungskritikerinnen und -kritiker aus Europa oder Nordamerika.
Ibrahima Thiam, ein Experte für Klima- und Umweltgerechtigkeit aus dem Senegal, meint, dass es während der Foren im senegalesischen Dakar 2011 und in Tunis 2013 vor allem der ansonsten seltene persönliche Kontakt mit Gleichgesinnten aus anderen Ländern gewesen sei, der das WSF zu etwas Besonderem gemacht habe. Dennoch habe das Forum in Kanada eine sehr gute Gelegenheit für den Nord-Süd-Austausch geboten, fügt Thiam hinzu: »Kanadische Unternehmen betreiben in vielen Ländern des Südens Ressourcenausbeutung. Wären mehr Aktivisten des Südens hier gewesen, hätten wir vielleicht auch die kanadische Bevölkerung stärker in dieser Hinsicht sensibilisieren können.« Die Mehrheit der Einheimischen wusste gar nichts vom WSF in ihrer Stadt. »Welches Forum?« fragten sogar die Studierenden, die sich vereinzelt versehentlich in einen der Seminarräume der Universität von Montreal (UQAM) verirrt hatten, in denen die Workshops des WSF stattfanden.
Das Visaproblem blockierte das WSF auch in einer anderen Hinsicht. So waren es während der Weltsozialforen in Afrika 2011 bis 2015 unter anderem die vielen verschiedenen Gruppen für Migrantenrechte aus Europa und Afrika, die sich das WSF – unbemerkt von den Mitgliedern des Internationalen Rates – aneigneten. Und zwar als Ort, an dem sie sich vernetzten, Wissen über Routen und Gefahren der Migration austauschten und über gemeinsame Strategien angesichts der verschärften Abschottungspolitik der EU diskutieren konnten.
Trésor, dessen Visumsantrag die ­kanadischen Behörden ebenfalls abgelehnt hatten, ist einer der Sprecher der »Coalitión Internationale des Sans ­Papiers et des Migrants« (CISPM) in Deutschland. Er kam vor einigen Jahren aus Kamerun über Marokko und das Mittelmeer nach Europa und lebt mittlerweile mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in Berlin. Trésor erzählt, dass er sich auf dem WSF in Dakar 2011 als »migrantischer Aktivist politisiert« und sogar »die nötigen Kontakte für die Reise nach Europa geknüpft« habe.
Blass blieb das Forum aber auch, weil es die kanadischen Organisatoren nicht schafften, die sozialen Bewegungen vor Ort für das WSF zu begeistern. So blieb die wachsende nordamerikanische Bewegung »No one is illegal« dem Forum fern, die kanadische »Black Lives Matter«-Bewegung richtete mit dem gleichzeitig stattfindenden Hoodstock Festival ihr eigenes Forum aus und eine wundervolle Gay-Pride-Parade zog am Sonntag, dem letzten Tag des WSF, Zehntausende an, allerdings ohne den geringsten Bezug zum Forum herzustellen.
Mit nur 15 000 – statt wie erawartet 50 000 – Teilnehmenden zog Montreal nur noch ein Zehntel der Teilnehmerzahl an, die Anfang der nuller Jahre zu den ersten Foren nach Brasilien gereist war. So war das WSF in Montreal alles andere als »mad & noisy«. Lautstark politisches Gehör verschafften sich lediglich die Unterstützer der antiisraelischen und immer aggressiver in den globalisierungskritischen Bewegungen auftretenden Kampagne »Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen« (BDS). Schon vor dem Treffen in Montreal hatte die BDS-Bewegung versucht, den Internationalen Rat des WSF zu einer Erklärung zu bewegen, in der zum Boykott Israels aufgerufen wird. BDS konnte sich zwar nicht durchsetzen, trat aber mit mehreren eigenen Kundgebungen in der rue Sainte-Catherine und vor ­allem im thematischen Stream der freien Me­dien dominant auf. Während die Abschlusserklärungen der meisten anderen Streams, etwa zu solidarischer Ökonomie, Handel oder Ressourcenschutz, eher unpolitisch blieben und sich vor allem mit technischen Fragen wie der Dezentralisierung des WSF oder der Verlagerung der Aktivitäten ins ­Internet beschäftigten, erreichte die BDS-Kampagne, dass die Boykottforderung in die Erklärung des Medienblocks aufgenommen wurde. Gründe genug also, das Forum Forum sein zu lassen und sich lieber noch ein Bier zu bestellen.