Die Reaktionen auf den »Brexit« in Frankreich. Teil sechs einer Serie

Erst das Ersparte, dann die Souveränität

Das politische Establishment Frankreichs setzt fast geschlossen auf den Verbleib in der EU, selbst die extreme Rechte scheut sich, den Austritt allzu offen zu propagieren. Sechster Teil einer Serie über die Reaktionen auf das britische EU-Referendum.

Eine Mehrheit der Franzosen will, dass ihr Land EU-Mitglied bleibt. Nach dem britischen Referendum sagte in Umfragen eine Mehrheit von 55 Prozent, sie wünsche nicht, dass in Frankreich über die Zugehörigkeit zur EU abgestimmt werde. Auch für die sozialdemokatische Regierung kommt ein EU-Austritt nicht in Betracht. Bei der stärksten Opposi­tionspartei, Les Républicains (LR, ehemals UMP) lehnt die Mehrheit der aussichtsreichen Anwärter auf die Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im April 2017, allen voran der ehemalige Premierminister Alain Juppé, ebenfalls ein Referendum ab. Allerdings macht der derzeit an dritter Stelle hinter Juppé und Nicolas Sarkozy platzierte Bewerber für die Kandidatur, der frühere Europa- sowie Landwirtschaftsminister Bruno Le Maire, mit dieser Forderung von sich reden. Doch mit irgendetwas muss er sich ja von den sonstigen Anwärtern – es sind ihrer insgesamt mehr als ein Dutzend – abgrenzen.
Bei der Wählerschaft des Front National stieg der Anteil derer, die ein Referendum über den EU-Austritt wünschen, dagegen einer neuen Umfrage zufolge auf 84 Prozent. Die Parteiführung will sich derzeit allerdings in Fragen der Zugehörigkeit zur EU oder zur Euro-Zone nicht festlegen. Da die Idee eines Austritts bei einigen Sympathisanten, vor allem aber bei den umworbenen konservativen Wechselwählern – vorwiegend Mittelschichtlern und Rentnern, die im Falle einer Währungsumstellung um ihr Erspartes fürchten – eher unbeliebt ist, verzichtete Marine Le Pen seit einem »Strategieseminar« im Februar darauf, den Austritt explizit zu propagieren. Stattdessen fordert sie seit dem britischen Referendum lauter denn je eine »Volksabstimmung auch in Frankreich«.
Dabei nimmt sie nicht direkt zur Frage eines Austritts Stellung. Sie sagt vielmehr, im Falle eines Wahlsiegs werde sie Verhandlungen mit der EU über eine Reform der Union aufnehmen und dann je nach Ergebnis für einen Verbleib oder Austritt werben. Nach dem britischen Referendum jubelte sie über das Ergebnis, das die künftige »Freiheit der Völker« ankündige. Ihr Vizevorsitzender Florian Philippot widersprach in einer Reihe von Fernsehsendungen immer wieder den Vorhersagen, der »Brexit« werde negative wirtschaftliche Auswirkungen haben.
In der Linken haben sich in den vergangenen fünf Jahren einige Verschiebungen ergeben. Die französische KP hat an Bedeutung verloren. Sie ist 1996 offiziell von der Ablehnung der EU – die bis dahin mit den Traditionen der Volkssouveränität und des linken Nationalismus, von der republikanischen Mobilmachung 1792 gegen Preußen und Österreich bis zur Résistance ab 1940, verbunden wurde – zur Forderung nach einer »Umorientierung der Union« weg vom »Neoliberalismus« übergegangen. Nur noch neo­stalinistische oder orthodox-parteikommunistische Gruppen am Rand der KP begehren dagegen offen auf und sehen keine Alternative zum EU-Austritt.
Doch neben der KP hat der frühere sozialdemokratische Parteilinke Jean-Luc Mélenchon, der 2009 die »Linke Partei« (Parti de gauche, PG) gründete, an Einfluss gewonnen. Mélenchon war ursprünglich ein EU-Befürworter im Namen eines »sozialen Europa«. 1992 warb er noch für den Maastricht-Vertrag, der bei einem Referendum im September jenes Jahres mit einer Mehrheit von 51 Prozent knapp angenommen wurde. Bei der Abstimmung im Jahr 2005 war er gegen den geplanten EU-Verfassungsvertrag, dessen inhaltliche Ausrichtung er ablehnte. 2013 begann er dann mit einem möglichen Austritt aus der EU zu liebäugeln. Seit den Erfahrungen der griechischen Syriza-Regierung – ursprünglich hatte Mélenchon enge Verbindungen zu Alexis Tspiras – hat sich diese Haltung bei ihm weiter ausgeprägt.
Mélenchon nahm sich Oskar Lafontaines politische Linie in Deutschland bei seiner Parteigründung 2009 explizit zum Vorbild. War Lafontaine aber 1990 mit seinem Vorstoß gegen das Asylrecht und 2005 mit seiner »Fremd­arbeiter«-Rede in Chemnitz negativ aufgefallen, so vertritt Mélenchon in der Migrationsdebatte eher antiras­sistische Positionen.
Doch gerade beim Thema EU schleichen sich seit kurzem chauvinistische Töne ein. Am 5. Juli sprach Mélenchon im Europaparlament, dem er angehört, zum Thema Entsendearbeiter. Dabei handelt es sich um Lohnabhängige, deren Unternehmen im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit in anderen EU-Ländern aktiv werden als in denen, wo sie ihren Sitz haben. Die Zahl der Entsendearbeiter hat in Frankreich im vorigen Jahr um ein Viertel zugenommen. Der Anstieg war so spürbar, dass auch Premierminister Manuel Valls den anderen EU-Mitgliedern damit drohte, von der Entsenderichtlinie Abstand zu nehmen. Diese schob zwar früheren Praktiken des Lohndumping einen Riegel vor – auch für »entsandte« Beschäftigte gelten örtliche Mindest- und Tariflöhne –, doch das gilt nur für den unmittelbar ausbezahlten Grundlohn. Die Beiträge zu Sozialsystemen, die in Frankreich ein Drittel der Personalkosten ausmachen, können dagegen nach dem Einkommensniveau in den Herkunftsländern bemessen werden.
Dieses System der Konkurrenz unter Lohnabhängigen kann man kritisieren. Doch in seiner Rede in Straßburg sagte Mélenchon, der als erfahrener Politiker die Auswirkung von Formulierungen kennen muss: »Ein Entsendearbeiter stiehlt den ortsansässigen Arbeitenden das Brot vom Teller.« So werden Ressentiments gegen die betrof­fenen Lohnabhängigen geschürt. In einer Presseaussendung kritisierte ihn die »Neue Antikapitalistische Partei« (Nouveau Parti anticapitaliste): »Diese Arbeiter stehlen nichts!«
In der europapolitischen Debatte steht bereits seit 20 Jahren je einem für stärkere EU-Integration plädierenden sozialdemokratischen und konserativ-liberalen Lager starke Strömungen innerhalb der Linken und der Rechten entgegen. Für das Non de gauche und das Non de droite, das »linke Nein« und das »rechte Nein«, gibt es unterschiedliche Gründe. Während die Rechten auf nationaler Souveränität beharren, dominiert bei den Linken die Ablehnung der als neoliberal kritisierten EU-Strukturen. Mélenchons Aussagen zeigen allerdings, dass auch Linke nicht gänzlich immun gegen die Parolen der Rechten sind.