Dressed like a woman

Mit dem Album »MYKKI« liefert der US-amerikanische Künstler Mykki Blanco die beste Popmusik, die man derzeit zu hören bekommt.

Was sind das für Typen? Wie leben die? Was für Drogen nehmen die? Welchen Sex haben die? Welches Geschlecht haben die? In welcher Welt leben die? Woher kommen ihre Klamotten, die Perücken, das Make-Up? Wie sind die geworden, was sie sind?
Wenn es stimmt, dass gute Popmusik sich dadurch auszeichnet, dass sie solche und ähnliche Fragen in Hülle und Fülle provoziert, dann ist »MYKKI« die beste Popmusik, die gerade zu haben ist. Allenfalls Frank Ocean wirft so viele interessante Fragen auf. Ein wichtiger Punkt ist aber auch: Wer fragt da? Wer ist der Typ, der da über »MYKKI« schreibt? Und aus welcher Perspektive? Selten war diese Frage so unumgänglich wie hier, selten gab es ein größeres Mismatch zwischen dem Rezensenten und seinem Gegenstand. Zwischen mir und »MYKKI« und zwischen mir und Mykki Blanco.
Am 9. August 2016 kommentierte die Frankfurter Journalistin Esther Schapira, die von ihren politischen Gegnern schon mal als »Halbjüdin« bezeichnet wird, in der ARD das Antidiskriminierungsgesetz: »Wer männlich, weißhäutig, sichtbar biodeutsch, christlich oder säkular, nicht behindert und nicht schwul ist, weiß nicht, was es heißt, diskriminiert zu werden.« All diese Eigenschaften treffen auf mich zu, keine dieser Eigenschaften trifft auf Mykki Blanco zu – mit gewissen Einschränkungen bei den Kategorien christlich oder säkular und behindert. Außerdem bin ich mindestens doppelt so alt wie Mykki Blanco. Und ich bin noch nie im Leben in Frauenkleidern herumgelaufen, außer mal mit zwölf vorm Spiegel in den Klamotten meiner Mutter. Wir passen also richtig gut zusammen.
Gleich im ersten Song von »MYKKI« ist Mykki »dressed like a woman« und trägt Lipgloss. »I’m in a Mood« singt er, nein, sie, also die Figur, die sich Mykki Blanco nennt. Ihre Plattenfirma bezeichnet sie griffig als »non-binary gender-queer post-homo-hop musical artist«, wir sagen für den Rest dieses Texts: sie. »I’m in a Mood« heißt der Opener von »MYKKI«, nicht etwa »I’m in the Mood«, nach Glenn Millers Signatursong. Mykki verfügt über viele Moods. Mood heißt Stimmung, Gemütslage, Laune, aber auch: Modus. »MYKKI« handelt von Mykkis »ever changing moods«, ihren häufig wechselnden Stimmungen, aber auch von ihren wechselnden Modi. Schnell wird klar, dass Mykki ein überdurchschnittlich großes Repertoire an Moods liefert und überdurchschnittlich viele Möglichkeiten, diese Moods zu manipulieren. Es sind so unglaublich viele Details, die hier ausgebreitet werden, dass sie wahrscheinlich nicht nur den Schapira’schen Mann, der nicht weiß, was Diskriminierung ist, überfordern. En detail also verhandelt »MYKKI« den Hauptwiderspruch der Figur Mykki Blanco: Ich kann meine Moods ständig verändern und manipulieren, lebe aber in einer Gesellschaft, die diese Moods und Libidos nur in abgegrenzten (Frei-)Räumen zulässt, ihnen außerhalb dieser Räume dagegen mit Ausgrenzung, Unterdrückung und Gewalt begegnet. Im Extremfall mit Ermordung, wenn Freiräume attackiert werden, wie in Orlando. Um Missverständnisse zu vermeiden: »MYKKI« agiert nicht identitär, »MYKKI« kommt nicht im Testimonial-Modus daher, »MYKKI« wirbt nicht um Toleranz für Mykki und andere Diskriminierte, »MYKKI« feiert nicht den Karneval der LGBTQXYZ-Kulturen.
»MYKKI« erzählt von einem Ort, der denkbar weit entfernt ist von jener Mitte der Gesellschaft, die noch immer von dem Mann, der keine Diskriminierung kennt, bestimmt wird, erst Recht von jener Wutbürgermitte, die in einer aktuellen Studie als »enthemmt« charakterisiert wird. Und »MYKKI« erzählt mit so ziemlich allen musikalischen Mitteln, die einem »non-binary gender-queer post-homo-hop musical artist« 2016 zur Verfügung stehen.
»Eine einzige Hookline reicht nicht mehr«, erklärte Jay Brown, Vorsitzender von Jay Zs Label Roc Nation schon 2009. »Du brauchst eine Hookline im Intro, eine im Teil vor dem Refrain, eine im Refrain selbst und eine in der Überleitung. Die Leute hören sich einen Song im Radio durchschnittlich sieben Sekunden an, bevor sie weiterschalten. In dieser Zeit musst du sie mit einer Hook­line kriegen.«
Mykki Blanco kann dagegen mit sinkenden Aufmerksamkeitsspannen umgehen, die kennt sie von sich selbst, schätze ich. An catchy hook­lines und hochfrequent abgefeuerten Schlüsselreizen mangelt es »MYKKI« nicht. Mehr- bzw. Vielstimmigkeit ist eher Regel als Ausnahme, viele Songs sind dialogisch oder trialogisch angelegt. Die Moods auf »MYKKI« wechseln nicht von Song zu Song, sondern mehrfach innerhalb eines Songs. Dabei pendelt Blancos Sprech-, Rap- oder Singposition permanent zwischen zwei gegensätzlichen Polen: von ich-synton zu ich-dyston und zurück in sieben Sekunden. Wikipedia definiert das so: »Ich-Syntonie beschreibt auch ein Gefühl, das eigene Verhalten, das von anderen Personen als Abweichung gesehen wird, selbst nicht als störend, abweichend oder normverletzend zu empfinden.« Ich-synton wäre Mykki »in a mood tonight« mit Lipgloss und Frauenkleidern in einem queeren Freiraum, wo aber dennoch jederzeit der Absturz in die Ich-Dystonie droht: »Als ich-dyston werden in der Psychopathologie Phänomene, Zustände und Symptome bezeichnet, die von der jeweiligen Person als nicht eigentlich zu ihr gehörig wahrgenommen bzw. als fremd und störend erlebt werden. Sie werden also von ihr nicht als integraler Bestandteil der eigenen Persönlichkeit begriffen und verursachen daher Leidensdruck.« Das wäre sogenannter queerer Selbsthass im klassischen Sinne.
»MYKKIs« bipolare Qualität spiegelt sich beim Hören: Ich pendle zwischen Überforderung und Bewunderung. Bewunderung für diese ­hypertrophe Figur, die meine Aufmerksamkeit fordert, weil sie ihre normabweichenden Moods so faszinierend performt. Überforderung, die in Bewunderung umschlägt, wenn »MYKKI« too much wird. Die Frage, wann Faszination in too much umschlägt, hat viel mit der Hörsituation und der psychischen Disposition der Hörenden zu tun.
»MYKKI« erreichte mich im Juli in einer Phase erhöhten Arbeitsdrucks: Text müssen vorproduziert, Deadlines eingehalten werden und das vor dem Urlaub. Wie das so ist bei sogenannten Freiberuflern. Keine günstigen Bedingungen für ein disparates, überreiches Album. Wahrnehmung entgleitet, Konzentration entweicht wie die Luft aus einem Ballon, meine Ungeduld sagt »ADHS-Musik, nicht für mich gemacht«.
Noch ein Versuch mit »MYKKI« ein paar Wochen später an einem Sonntagmorgen im August. Im Garten eines Ferienhauses im äußersten Südwesten Europas – möge die Algarve die Sinne öffnen – Sonne selten ohne Wind. Ich höre Musik nicht gern über Kopfhörer, da verschwindet die Umgebung, tue das aber an diesem Morgen, um niemanden zu stören. Also »MYKKI« in den Ohrstöpseln, dazu lese ich »Kritik des Auges«, Diedrich Diederichsens Texte zur Kunst. Ein masochistisches Setting, kalkulierte Selbstüberforderung, das eine lenkt vom anderen ab. »MYKKI« und Diederichsen wollen nicht zueinanderfinden. Aufhören? Nein, nicht aufgeben! Dann Glücksmomente der Kontingenz und Koinzidenz, Text und Musik berühren sich, plötzlich schreibt Diederichsen über »MYKKI«: »Hangover«, »Paranoia«, »Dämmerung nach vorwärts« (Bloch-Zitat) aus »Im Nebenzimmer. Der Drogentext« und, der Hit an diesem Sonntag auf Seite 258 im Aufsatz »Pornografie und Pop«: »Performierte Kontingenzempfangsbereitschaft!« Yes! Im Herzen von »MYKKI« wohnt Mykki Blancos Bereitschaft und Fähigkeit, Kontingenzen zuzulassen, Balancen auszuhalten, zwischen ich-synton zu ich-dyston hin- und herzuswitchen und ihre Kunst, diese Kontingenzempfangsbereitschaft zu performen, also aus dem Körpergedächtnis und anderen humanen Ressourcen abzurufen. Bei Diederichsen klingt das so: »Die adäquate Reaktion auf die Kontingenzüberwältigung durch indexikale Medien seitens der Produzenten kann nur die Pose sein, also eine Form von performierter Kontingenzempfangsbereitschaft und Zurverfügungstellung der Fetischisierbarkeit des eigenen Körpers – sie ist denn auch die zentrale Technik von Popmusik und Pornografie.«
Es ist kein Zufall, dass sich Lektüre und Hören in den Feldern Drogen und Pornografie überschneiden. »MYKKI« spielt an einem Ort, an dem es keine Subjekte gibt, die nicht ­gedrogt und gepornt wären (digitalisiert sowieso). Ge-drogt meint nicht be-drogt oder ver-drogt, sondern einen Aggregatszustand von Körper und Seele, der ohne die regelmäßige bis alltägliche Erfahrung von Drogen nicht denkbar wäre. Wobei Droge hier inklusiv gedacht ist: Aufputschmittel, Downer, Beschleuniger, Verlangsamer, Doping, Enhancement, Körperoptimierung und Modifikation (musikalisch gespiegelt in Stimm-Modifikationen via Autotune). In »MYKKI«-Land ist der Drogengebrauch längst entkoppelt von der fordistisch getakteten Wochenend-Exzesslogik des »Monday, I have Friday on My Mind«. Beiläufig werden hier Pillen gepoppt, Coke White liegt in der Luft und Mykki ist »smokin’ blunts with my cunts«. Cunts?
Ge-pornt wiederum meint nicht pornographisch oder pornographisiert, sondern einen Aggregatszustand von Körper und Seele, der ohne die regelmäßige bis alltägliche Erfahrung von Porn nicht denkbar wäre. Wie zu den Drogen ist das Verhältnis zu Porn zwiespältig: Die Pornoindustrie, und hier der Zweig, der sich mit Rock-Präfixen wie »Alternative«, »Indie«, »Punk« oder eben »Queer« schmückt, lechzt nach »non-binary gender-queer post-homo-hop musical artists« wie Mykki Blanco. Für solche Subjekte verspricht Queer Porn ein nicht oder weniger entfremdetes Leben, hier können sie ihre Normabweichung vorüber­gehend ich-synton performen, Queer Porn als temporär befreite Zone, so das Versprechen. Die »Zurverfügungstellung der Fetischisierbarkeit des ­eigenen Körpers« gegen Geld und Ruhm, klingt nach einem akzeptablen Deal, queere schwarze Künstlerinnen wie Big Freedia, Sissy Nobby, Zebra Katz und andere haben es auf mehr als bloß fünfzehn Minuten Stardom gebracht. Von Frank Ocean ganz zu schweigen: Sein neues Album ist Nummer eins in den USA. »Some pornstars from Canada« geistern so beiläufig durch »MYKKI« wie Pillen und Blunts. Queer Porn hat in der Szene eine Strahlkraft, wie einst Warhols Factory auf die Transgender-Schauspielerin Holly Woodlawn, die aus Miami nach New York trampte. Aber auch Queer Porn ist Pornoindustrie und damit potentielle Ausbeutungs- und Missbrauchshölle, der Grat zwischen Emanzipation und Exploitation ist schmal. Davon erzählt »Shit Talking Creep« in 1.30 Minuten. Laut Plattenfirma »ein kühner Hip-Hop-Track über Welt­politik, Hass und Intoleranz mit einer Reihe von pornographischen Anspielungen und Kommentaren über den heuchlerischen Umgang mit homosexueller Pornographie in Russland. »Fuck n*gger, no, I’m coming with the Russians’.« So viel zur maximalen Verdichtung und Überforderung in 90 Sekunden.
Die Single »(Like) High School Never Ends« bündelt die komplizierten Widersprüche von »MYKKI« aufs melodramatischste. Die Titelzeile verheißt ewige Jugend, utopisch wie einst Prince mit seinem androgynen Falsett: »If I was your girlfriend, would you let me kiss you?« Aber Springbreak-Orgie hin oder her, die High School geht dann doch mal zu Ende und das Drama nimmt seinen Lauf. Was der Song selbst nicht so klar hergibt, das verdeutlicht das Video von Matt Lambert. Verbotene Liebe in national befreiten Zonen Ostdeutschlands, erklärt die Plattenfirma: »Ein Skinhead aus einer rechten WG und ein schwarzer Transgender-Mann (oder doch Frau?) verlieben sich schon als Teenager und leben heimlich ihre Liebe. Regisseur Matt Lambert hat für den Track einen berührenden Kurzfilm gedreht, in dem er Shakespeares »Romeo und Julia« adaptiert und in eine tragische queere Lovestory verwandelt. Es geht um Liebe, um Sex, um Hass und um Tod. Ja, es ist genauso dramatisch, wie es klingt.« Es gehe auch um die andauernde Flüchtlingskrise in Europa, erklärt der Regisseur. Mykki Blanco ergänzt: »Ich dachte immer, Europa sei mein sicherer Hafen vor der weißen Vorherrschaft in Amerika, aber da habe ich mich getäuscht.«
In einem von zwei »Interludes« spricht Mykki Blanco in der ersten Person Singular über ihre Vorstellung von Liebe. Sie ist nicht mal sexuell. Vielleicht muss ich erst mal lernen, mich selbst zu lieben. Ich will doch auch nur geliebt werden, ist aber bei mir komplizierter als bei anderen. Das kunstvoll ausgearbeitete Komplizierte von »MYKKI« (und Mykki) können wir für seinen komplexen Reichtum lieben. Allerdings provoziert »MYKKIs« artistische Brillanz, ihre Überlegenheit, auch den Hass der Unterkomplexen, den enthemmten Hass der Schapira-Männer, die keine Diskriminierung kennen. Nur die von anderen.
Mykki Blanco: MYKKI (!K7 / Dogfood ­Music Group)