Das neue Album von Schwabinggrad Ballett

Korrekte Kunst

Das Hamburger Schwabinggrad Ballett arbeitet mit den Lampedusa-Aktivisten von Arrivati zusammen. Mit ihrem Album machen sie deutlich: Wir nehmen uns die Erde zurück!

Da beißt die schnöde Pop- und Schmockmaus keinen ästhetischen Faden ab: Musikalisch ist das neue Album von Schwabinggrad Ballett, insbesondere der Hit »Bodies will be back«, mit das Beste, was dieser Tage zu hören ist, und – soviel ist politisch zu konzedieren – dieser Tage auch gehört werden muss.
Das Video zu »Bodies Will Be Back« kursiert auf den üblichen Portalen im Internet. Was es zu sehen gibt, ist nicht nur ein äußerst solider, klug und konsequent gemachter Musikperformance-Kurzfilm, sondern ein Statement, das der alten Forderung nach »Politisierung der Kunst« nachkommt, die Walter Benjamin im Schlusssatz seines Essays »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« gegen die von den Faschisten forcierte »Ästhetisierung der Politik« setzte; das war vor 80 Jahren, 1936.
Benjamins Forderung nach der Politisierung der Kunst war auf der Höhe der Zeit – allein, weil sich in diesen Jahren die Ästhetisierung der Politik derart brutal, nämlich allgemein als Faschisierung der Lebensverhältnisse, durchsetzte. Kunst spielte als radikale Kraft emanzipatorischer Phantasie fortan und tendenziell nur noch eine Nebenrolle, was sich mit der Integration der Avantgarden in den sozial befriedeten Konsumgesellschaften ebenso abzeichnete wie mit der Zerschlagung der Avantgarden im Realsozialismus; mit der Entfaltung der Kulturindustrie wurde überdies die »kritische«, »linke« Kunst zur bloßen Zulieferin profitabler und probater Effekte. Die Hollywood-Filmindustrie war dafür das Modell. Die ästhetischen Produktions- und Reproduktionsmittel, also die Herstellungs- wie Darstellungsmittel der Kunst – Bild, Ton, Schrift, Drama, Tanz etc. – sind seither kontaminiert. Aber nicht unbrauchbar!
Klar war fortan, dass unter solchen Bedingungen eine Politisierung der Kunst sich nicht ohne weiteres auf die Politik in ihren herrschenden Formen verlassen kann; sie bleibt Widersprüchen ausgesetzt, die allein mit Mitteln der Kunst nicht aus der Welt zu schaffen sind, wenn diese Welt selbst nicht verändert wird. Gleichwohl ist eine »linke«, »kritische« Kunst angehalten, dennoch alle zur Verfügung stehenden Mittel vollends und konsequent auszuschöpfen. Probiert, mit Abbrüchen und Neuanfängen, haben das Surrealismus, Situationismus, Jazz und andere.
Daran schließt nun Schwabinggrad Ballett an. Sie adaptieren, kolportieren, kopieren, persiflieren, affirmieren etc., und zwar weitaus mehr als nur, wie im Waschzettel ihres Labels Buback annonciert, »Jazz, Post-Punk, electronic Afro-Kraut«. Und: sie übertreiben die ästhetische Übertreibung zur politischen Übertreibung, präsentieren sich in einer Hyperinszenierung des Als-ob.
Konsequente Kunst heute handelt sich notgedrungen diesen Widerspruch ein: Sie muss ihre politische Bedeutung ästhetisch aufpolieren – gerade wo es zur kulturindustriellen Gepflogenheit geworden ist, umgekehrt zu agieren, indem ästhetische Bedeutung politisch aufpoliert wird. Insofern ist das, was politisch heikel ist, ästhetisch gerechtfertigte Strategie. Korrekte Kunst muss prätentiös auftreten, darf sich in allem üben – nur nicht in Bescheidenheit. Mit anderen Worten, und auf Schwabinggrad Balletts neuem Album »Beyond Welcome« wird das förmlich durchdekliniert: dieser Zeit adäquate Kunst muss sich einlassen auf das Spektakel, muss seine Regeln kennen, um sie zu brechen, aber auch, um das Spektakel durch Überbietung und Überbordung zu verhöhnen, schließlich um die reale Scheiße zu diskriminieren (man trägt gerne Uniformen, hat Symbole, nutzt Gesten, Handzeichen …).
Heraus kommt, paradox, eine Repräsentationspolitik, die das Repräsentative nur verweigern kann, indem sie es permanent demonstriert. Rein künstlerisch ist das problemlos, kulturindustriell seit Jahrzehnten bewährt. Eben deshalb kann hier ästhetisch überblendet werden, was politisch zu strategischen Fragen führt: Wie gibt man denen eine Stimme, die keine haben sollen, ohne sie ihnen gleich wieder zu nehmen? Wie lässt man die Subalternen sprechen, ohne sich in billiger Weise mit ihnen gemein zu machen? Wie lässt sich eine kollektive Kunst machen, wenn politische Kollektive entweder eine reale Bedrohung oder Phantasmagorien sind? Wie kann aus einem »für andere« ein »mit anderen« werden, ohne bloß temporär zu aktivieren? Antworten auf solche Fragen können nur in kleinen Schritten gegeben werden, wovon »Beyond Welcome!« allerdings eine ganze Menge bietet.
Verbündete gibt es genug, Leute, die Ideen haben oder ein Instrument spielen können auch, schließlich versteht man sich von vornherein als »politisches Performance-Kollektiv« (und nicht als Musikgruppe, nicht als Band). Es gilt, ein »Arbeitsbündnis« herzustellen in dem Sinne, wie es Christine Resch und Heinz Steinert in ihrem »Entwurf einer Interaktionsästhetik« skizzierten. Schwabinggrad Ballett kooperierten mit Arrivati, einer Gruppe von Hamburger Lampedusa-Aktivistinnen und -Aktivisten. Samples, Sprechgesang, Breakbeats und eine Siebziger-Jahre-Orgel (nicht nur die erinnert an Sun Ra) bestimmen den Sound, mit dem Songs gemacht werden; Songs, die als Songs gehört werden können, die aber auch als Elemente der Schwabinggrad Ballett & Arrivati-Performance-Aktionen eingesetzt werden. Dass sich dabei Bezüge zum FreeJazz und zur Improvisation, zur Agit-Prop und zum Afrofuturismus, schließlich Dada und Retrogarde (z. B. NSK) ergeben, versteht sich von selbst.
Auch gut: Nur zwei Texte sind auf Deutsch: »Die Deutschen sterben aus!« (Eine gute Portion wishful thinking, die freilich den national­christ­lichen Kreationismus von Sarrazin und Konsorten verhöhnt.) Und »Über die Utopie« – eine sich in Musik auflösende Rezitation einiger Sätze Theodor W. Adornos aus dem Utopie-Gespräch mit Ernst Bloch im Jahr 1964. Da heißt es: »Mir will es so vorkommen, als ob das, was subjektiv, dem Bewusstsein nach, dem Menschen abhanden gekommen ist, die Fähigkeit ist, ganz einfach das Ganze sich vorzustellen als etwas, das vollkommen anders sein könnte.« Das können Schwabinggrad Ballett & Arrivati auch nicht. Aber sie können – und das können sie gut – deutlich machen, um was es geht: Wir nehmen uns die Erde zurück! Wer unser Feind ist, darf uns fürchten, unsere Rache wird fröhlich sein: Fear of a Back Planet!

Schwabinggrad Ballett & Arrivati: Beyond Welcome! (Buback)