Karim El Khmlichi im Gespräch über islamistische Radikalisierung in belgischen Gefängnissen

»Die Religion kommt ganz am Schluss«

Karim El Khmlichi studierte Psychologie und Philosophie. Er war acht Jahre lang im Auftrag des belgischen Justizministeriums als psychologischer Berater in verschiedenen belgischen Strafvollzugsanstalten tätig. Seit zwei Jahren ist er einer von drei Direktoren des Gefängnisses im Brüsseler Stadtteil St-Gilles. Mit der »Jungle World« sprach er über die islamistische Radikalisierung von Gefangenen in Belgien.

Sind belgische Gefängnisse ein Ort der islamistischen Radikalisierung?
Das Profil derer, die tatsächlich bereit sind, zur Tat zu schreiten, zeigt eindeutig, dass die meisten von ihnen schon einmal im Gefängnis waren. Viele sind vorher straffällig geworden, häufig im Zusammenhang mit Bandenkriminalität. Sie sind bereit, ihre kriminelle Kompetenz für ihre neue Ideologie einzusetzen, und werden daher besonders interessant für islamistische Organisationen wie Daesh.
Häufig haben sie ein Ressentiment gegen die Gesellschaft, ein besonders stark ausgeprägtes Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, das einen Motor darstellt, um tatsächlich gewalttätig zu werden.
Man hat also in der Gesamtheit der unterprivilegierten Bevölkerung einen größeren Teil, der die islamistischen Ideale übernehmen könnte. Unter ihnen wird jedoch lediglich eine Minderheit zur Tat schreiten.
Wie funktioniert der islamistische Radikalisierungsprozess?
Eine Person, die straffällig wurde und sich später im Gefängnis wiederfindet, wird in der Regel versuchen, ihre Identität neu zu konfigurieren. Im besten Fall wird sie im Laufe dieses Prozesses verstehen, dass der eingeschlagene Weg nicht der richtige war. Das klappt manchmal, ich habe das in meiner Zeit im psychosozialen Dienst erlebt. Wenn jedoch diese Person in ihrer Wahrnehmung einer ungerechten Welt, in der sie sich bewegt, unterstützt wird, wenn sie also auf einen Diskurs trifft, der ihr vermittelt, dass das Problem nicht sie selbst, sondern die Gesellschaft ist, in der sie lebt – dann hat dieser Diskurs eine sehr stimulierende Wirkung. In diesem Fall findet die Neukonfigurierung auf einer anderen moralischen Ebene statt. Hier schaffen es die teils sehr charismatischen Rekruteure, ein Vertrauensverhältnis herzustellen, und dann kommt es in der Tat zu einem Radikalisierungsprozess.
Findet dieser Prozess häufig im Gefängnis statt?
Es ist sicher schwer, dies zu quantifizieren. Man sollte jedoch nicht den Fehler begehen und denken, alles beginnt und nimmt ein Ende im Gefängnis. Sehr oft hat der Prozess draußen begonnen, im Gefängnis können sich die Dinge beschleunigen, weil die betroffene Person hier viel sensibler ist als außerhalb des Gefängnisses. Im Übrigen gab es im Gefängnis keine Freudensprünge, als die Nachricht über die Attentate (in Paris und Brüssel, Anm. d. Red.) kam. Die große Mehrheit der muslimischen Gefangenen hat klar zum Ausdruck gebracht, dass sie damit nicht einverstanden ist. Solche, die positiv reagiert haben, waren die absolute Ausnahme. Sie werden natürlich unter ­Beobachtung gestellt.
Wie gehen Sie mit Inhaftierten um, die Mithäftlinge rekrutieren wollen?
Wir beauftragen das Personal, ein besonderes Augenmerk auf bestimmte Personen zu haben – etwa solche, von denen man weiß, dass sie eine Art Führungsrolle haben, dass sich andere ihrer Meinung unterwerfen, sich um sie scharen. Durch bestimmte Techniken ist es möglich, jemanden zu identifizieren, der dabei ist, eine Botschaft zu überbringen. Das war früher einfacher. Die Männer »mit den langen Bärten« etwa waren leichter zu erkennen. Es gab eindeutige Merkmale wie etwa den Gebetsfleck auf der Stirn. Heute gibt es jedoch das Konzept der Taqiyya (Jungle World 21/2016; Anm. d. Red.), das möglicherweise nun häufiger angewandt wird. Das heißt, wir wissen, dass es eine ganze Reihe Menschen gibt, die ihre Ideologie verbergen, um Einfluss zu nehmen.
Noch bis vor kurzem beklagte man, zu wenige Informationen über die ­Situation in den Gefängnissen zu haben. Hat sich das geändert?
Ich denke, bei der Identifikation radikaler Gefangener wurden große Fortschritte gemacht. In jedem Falle ist es wichtig, möglichst viele Informationen über die betroffenen Personen zu sammeln und sie an die Behörden weiterzugeben, damit sie außerhalb des Gefängnisses gegebenenfalls beobachtet werden. Denn hier sind die Risiken natürlich sehr erheblich. Wir sind dabei, dies auszubauen. Ich denke jedoch, wir sollten uns nicht nur auf die konzentrieren, von denen wir annehmen, dass sie radikalisiert sind. Es müssen individuelle Profile der einzelnen Gefangenen erstellt werden, um bei denen anzusetzen, die empfänglich sind für diese Ideologen.
Gibt es Übergriffe von radikalisierten Gefangenen – wie etwa kürzlich in Frankreich?
Wir haben sehr wenige Fälle von ernsthaften Übergriffen gegenüber Wächtern. Einen vergleichbaren Fall wie in Frankreich gab es nicht.
Welche Rolle spielt der Islam im Radikalisierungsprozess?
Der Islam ist nicht nur ein spirituelles Angebot, er ist auch ein politisches Ins­trument. Hierzulande ist er ein Identifikationsobjekt einer Minderheit, die sich auf ihn bezieht, etwa wenn es darum geht, sich in der westlichen Welt, die sich gegen Immigranten richtet, zu positionieren. Wie Sie wissen, gibt es verschiedene Strömungen im Islam. Zentral ist der Wortlaut des Koran. Wenn Sie das Buch wortwörtlich nehmen, ist es rigoristisch und fundamentalistisch, man könnte sagen radikal. Heute ist die Lektüre oft politisch. Und da wird es interessant für die Fundamentalisten – in einer Welt, in der die Politik es nicht fertigbringt, den sozialen Zusammenhalt herzustellen, die Gesellschaft zu stabilisieren. Das führt zu einer Art Neoarchaismus, es wird eine Zeit idealisiert, in der sozusagen Medina (als die erleuchtete, wohl­organisierte Stadt; Anm. d. Red.) ein perfekter Ort war. Selbstverständlich ist das ein Phantasma – denn einen solchen Ort gab es ja historisch nie.
Wie wichtig ist eine religiöse Begleitung von radikalisierten Gefangenen?
Die wichtigste Rolle des religiösen Beraters sollte es sein, ein anderes, ein reicheres Bild vom Islam zu vermitteln. Etwa zu erklären, dass Taqyyia ursprünglich ein Konzept war, um Muslime zu beschützen, die verfolgt wurden. Es ist nicht dazu bestimmt, um gewalttätige Angriffe zu verschleiern. Heute droht der Salafismus zur Norm zu werden. Deshalb geht es bei dieser Beratung darum, das Bild des Islam zu erweitern.
Funktioniert das denn bei radikalisierten Gefangenen?
Es gibt zu wenig islamische Berater in den Gefängnissen. In St. Gilles haben wir einen für 500 muslimische Gefangene. Sie müssen also entscheiden, mit wem sie sich treffen. Die Arbeit mit Personen, die dabei sind, sich zu radikalisieren, verlangt viel Zeit und muss individuell erfolgen. Wenn Sie Personen mit radikalen Auffassungen in eine Gruppe integrieren, riskieren Sie, dass Sie das Gegenteil von dem erreichen, was Sie wollen.
Kann das Gefängnis ein Ort der Entradikalisierung sein?
Der Begriff der Entradikalisierung wurde eine Zeit lang gebraucht, heute reden wir jedoch eher von Disengagement. Ich denke, das Gefängnis muss ein Ort des Disengagements sein.
Es muss verhindert werden, dass ein Gefängnis zum Katalysator in der vorhin erwähnten Weise wird und bei Menschen mit entsprechender Voreinstellung die Radikalisierung beschleunigt.
Das klingt, als hätte man die Hoffnung aufgegeben, dass die Betroffenen empfänglich sind für den Prozess einer Entradikalisierung.
Die Priorität besteht zweifellos darin, dafür zu sorgen, dass diese Personen keine Gefahr mehr darstellen. Natürlich sollte man darüber hinausgehen. Hier muss man jedoch woanders ansetzen. Studien wie die von Dounia Bouzar zeigen, dass eine emotionale Bindung am wichtigsten ist, um es Personen zu ermöglichen, aus der radikalen Ideologie herauszukommen. Man muss sie an die Grundlagen der menschlichen Beziehungen zurückführen. Demnach geht es weniger darum, theologisch zu argumentieren und ihre salafistische Ideologie zu entwerten oder zu zerstören, sondern vielmehr darum, ihre Verbindung zum Rest der Gesellschaft wiederherzustellen, dafür zu sorgen, dass der andere als Mensch und nicht als Monster wahrgenommen wird. Der vorhin erwähnte Religionsberater mag zwar seinen Platz haben, es ist jedoch wichtiger, den gesellschaftlichen Aspekt hereinzubringen. Denn die Religion kommt im Radika­lisierungsprozess erst ganz am Schluss. Anstatt sich auf also das letzte Element in der Kette zu konzentrieren, sollten wir bei dem ansetzen, was den Prozess ausgelöst hat.
Die Arbeit mit diesen Leuten muss sich deshalb auf einer psychoaffektiven Ebene abspielen. So wie es auch Fethi Benslama in seinem Buch »Un furieux désir de sacrifice – Ein furioses Opferbedürfnis« beschrieben hat. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass der Mensch die Vorstellung in sich trägt, mit dem Leben abzuschließen, dass das Leben ein Spannungsbogen ist. Nun sind wir nicht alle Selbstmörder, der Tod ist uns bewusst. Das Besondere ist jedoch, dass wir Beziehungen haben, die uns ans Leben binden. Jemand, der seinen Selbstmord akzeptiert, hat diese Beziehung abgebrochen. Deshalb muss man beim zentralen Satz von Daesh, »Wir lieben den Tod mehr als Ihr das Leben«, ansetzen und den Betroffenen klarmachen, dass der Sinn, den man dem Tod darin gibt, Gott zu finden, sozusagen eine »Katze im Sack« ist.