Islamisten gewinnen die Wahlen in Marokko

Für König und Koran

Aus den Wahlen in Marokko ging der islamistische PJD erneut als stärkste Partei hervor. Im monarchischen System sind die Befugnisse der Regierung jedoch begrenzt.

Sie waren an der Regierung, jedoch nicht an der Macht. So lautet traditionell linke Kritik etwa an sozialdemokratischen Regierungen, die gegen die Machtfülle des Kapitals und der Bürokratie im Staatsapparat kaum Reformen durchsetzen können. In Marokko, wo gewählte Regierungen es nicht nur mit dem Kapital, sondern auch mit der Monarchie als eigentlichem Machtzen­trum zu tun haben, scheint diese Erkenntnis nun als eine Art Entschuldigung für die seit dem Winter 2011/12 ­regierenden Islamisten der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) zu dienen.
Marokko war nach den Wahlen vom 25. November 2011 das dritte Land ­neben Tunesien und Ägypten, in dem infolge der Revolten und Umbrüche seit Anfang jenes Jahres eine islamistische Partei an die Regierung kam. Da­gegen scheiterten islamistische Kräfte in Libyen zweimal, 2012 und 2014, mit diesem Vorhaben, sicherten sich allerdings danach mit Hilfe eigenmächtig agierender Milizen die Macht über die Westhälfte des politisch gespaltenen Landes.
Marokko ist nun das erste Land in Nordafrika, in dem eine islamistische Partei als führende Kraft in der Regierung bestätigt wird. Allerdings regierte der PJD bislang nicht allein, sondern in mehreren Koalitionen, zuletzt seit 2003 mit der wirtschaftsliberalen Partei Mouvement Populaire (MP), der früher dem Königshaus nahestehenden Partei Nationale Sammlung der Unabhängigen (RNI) und der einstmals kommunistischen, heute bürgerlich-elitären Kleinpartei PPS.
Die wahre politische Macht in Marokko liegt allerdings bei der Monarchie, die als konstitutionell bezeichnet wird, dem König aber ungleich größere Macht einräumt als Königshäusern in europäischen Monarchien. Bis zum Tod von Hassan II., dem 1999 verstorbenen Vater des derzeitigen Königs Mohammed VI., konnte man noch von ­einer absoluten Monarchie mit stark ­repressiven Zügen sprechen. Verfassungsreformen beschnitten zwar die Macht des Königs, der jedoch weiterhin die tatsächliche Regierungsgewalt ausübt.
Nicht direkt aus dem Staatsapparat hervorgegangene Parteien werden deswegen mitunter vom König mit der Regierungsbildung betraut, befinden sich dabei aber auf die Dauer in einer schwächeren Position, weil das Könighaus als größter wirtschaftlicher Akteur in Marokko mit seinen Stiftungen und Investmentfonds faktisch über die ökonomische Entwicklung im Land entscheidet. Internationale Investitionen fließen ins Land, mittlerweile wird auch das Bildungswesen weiter privatisiert. Die Investoren müssen beim Zugriff aber mit Partnern aus den Reihen des Königshauses teilen.
1997/98 wurde die marokkanische sozialistische Partei USFP mit der Regierungsbildung beauftragt, 2011 dann die Islamisten vom PJD. Beide enttäuschten einen beträchtlichen Teil ihrer Wählerschaft und verzichteten vor ihrer Regierungsbeteiligung aus strategischen Gründen auf jegliche ernst­zunehmende Kritik an der Monarchie.
Doch was den PJD betrifft, so scheinen viele der 15 Millionen Wahlberechtigten – von denen nur 43 Prozent zur Wahl gingen, während es bei den Parlamentswahlen 2011 45 Prozent waren – ihm unter Berücksichtigung seiner begrenzten Befugnisse verziehen zu ­haben. Das marokkanische Parlament hat 395 Sitze, davon werden 305 über die Regionen vergeben und 90 über landesweite Listen, die vor allem Frauen und jungen Kandidaten ins Parlament verhelfen sollen. Der PJD erhielt nun insgesamt 125 Sitze, im vorigen Parlament waren es 107.
Die Partei von Ministerpräsident Abdelilah Benkirane bleibt damit die stärkste Kraft. Zu ihrem bedeutendsten Konkurrenten wurde eine neue, unter Führung von Ilyas al-Omari aufgebaute Partei, die royalistische Partei der Authentizität und Modernität (PAM). Dieser Zusammenschluss, der sich vielerorts auf Unternehmer und Honoratioren stützt, wurde 2008 von Fouad Ali al-Himma, einem Freund und späteren Berater Mohammeds VI., aus fünf Kleinparteien gebildet. Der PAM vertritt faktisch die Interessen der Mon­archie, auch wenn die Partei sich ein vages sozialdemokratisches Programm gegeben hat und in französischen Medien sogar fälschlich als »Mitte-Links-Partei« eingestuft wird. An der bisherigen Regierungskoalition war der PAM nicht beteiligt, er regiert jedoch in fünf von zwölf marokkanischen Regionen.
Nachdem der PAM nun also insgesamt 102 Sitze errungen hat – bislang waren es 47 – und so von der viert- zur zweitstärksten Kraft aufgestiegen ist, scheint sich in Marokko ein Zweiparteiensystem zu entwickeln. Vormals führende politische Kräfte – wie die von 1998 bis 2011 mitregierenden Sozialdemokraten (USFP) mit nur noch 20 Sitzen und die bürgerlich-nationalistische Partei Istiqlal (Unabhängigkeit) mit nur 46 Sitzen – verlieren erkennbar an Anziehungskraft. Allem Anschein nach ersetzt der PAM, für den auch Teile der urbanen Mittelklasse und der gebildeten Schichten stimmten, vor allem die Sozialdemokratie in ihrer früheren politischen Rolle.
Die Föderation der demokratischen Linken (PDG), die aus mehreren linkssozialistischen Kleinparteien besteht, erhielt zwei Mandate. Ihre General­sekretärin Nabila Mounib zeigte sich »glücklich« über das Ergebnis, doch ­offenkundig fehlt es dem PDG an einer Verankerung vor allem in den armen Bevölkerungsschichten. Die einstmals maoistische Vereinigung Demokratischer Weg hatte zum Wahlboykott aufgerufen. Obwohl dies nicht verboten ist, wurde sie wie bei den Regionalwahlen 2015 zum Ziel von Repression.
Der PJD gilt als gemäßigt, doch ist zu befürchten, dass er wie sein türkisches Pendant AKP nur den geeigneten Moment für autoritäre Maßnahmen abwartet. Auch die salafistische Strömung, die deutlich radikaler ist als die Mehrheit im PJD, trat bei diesen Wahlen an. Salafistische Kandidaten wurden nicht nur vom PJD, sondern auch von anderen Parteien aufgestellt. Im nordmarokkanischen Tanger trat der salafistische Imam Hicham Temsmani Jad als Spitzenkandidat für die konservative Partei Istiqlal an.