Das Buch »Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten«

Die prekären Topverdiener von morgen

In seinem Buch »Proleten, Pöbel, Parasiten« erklärt Christian Baron linke Studenten zu Feinden von Arbeitern.

Studenten. Wohin man blickt, nur Studenten. Sie haben sich versammelt, an einem dieser von eigenartigen, selbstauferlegten Regeln bestimmtem Orte, den sie WG nennen. In der Küche delektieren sie sich am biodynamischen Rotwein aus dem neueröffneten Weingeschäft um die Ecke und lachen schrill über ihre gesammelten Anekdoten aus vier Semestern Studium von Arthouse-Filmen. Auf dem Balkon rauchen sie Cannabiszigaretten, sie nennen es Joint, und planen ihren nächsten Trip nach El Ä oder Nu Jork. Im Wohnzimmer sitzen noch mehr Studenten, sie trinken Bier (oder was sie dafür halten: Sternburger) und reden über marxistische Philosophie. Was man für eine vielleicht erquickliche, aber harmlose Samstagabendszene halten mag, ist nicht weniger als das Zentrum des entschiedensten Klassenhasses und -kampfes. Zumindest wenn man Christian Baron und seinem Buch »Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten« Glauben schenken mag.
Was machen diese WG-Linken also, wenn sie rumsitzen, über linke Theorie sprechen und Bier trinken? Was ist ihre perfide Strategie im Kampf gegen die unteren Klassen? »Alternative Studis akademisieren die Arbeiterkultur, berauben sie ihrer positiven Lebenswelt (wie eben das gesellige Biertrinken) und lassen den Nicht-Akademikern hernach nur noch die negativ stereotypisierten Elemente (Trinkhallen-Fressen, Nazi-Hooligans) übrig.« Statt sich naturgemäß zum geselligen Biertrinken in Burschenschaften nach den Regeln des »Allgemeinen Deutschen Biercomment« von 1899 zusammenzufinden, wie es in der »positiven Lebenswelt« der angehenden Akademiker doch traditionell üblich wäre, erlauben sich diese Studenten tatsächlich, sich nichtmilieuauthentischer Verhaltensweisen zu befleißigen – um damit die Lebenswelt der Nichtakademiker zu zerstören, die mutmaßlich von den obskuren Lebensweltzerstörungsversammlungen nie etwas mitbekommen werden.
Nun hat Baron einige Szenen solcher WG-Partys in seinem Buch versammelt, sie fallen selten zum Vorteil der dort geschilderten Personen aus. Das ist soweit auch noch verständlich, denn Geselligkeit entsteht heute selten, wenn Menschen aufeinandertreffen – egal ob beim Upper-Class-Gala-Dinner, beim Eckkneipenbesäufnis (selbst wenn Hertha gewonnen hat), beim anhedonischen Dreitagewachtechno-Marathon oder bei den Feiern des linksbürgerlichen akademischen Nachwuchses. Die Ungeselligkeit bei geselligen Anlässen hat Gründe, die im Gesellschaftlichen liegen. Doch Baron lässt die Studenten nicht so einfach davonkommen. Sie sind für ihn vor allem Ausdruck einer hegemonialen bürgerlichen Kultur, die sich in den »feinen Unterschieden« (Pierre Bourdieu) manifestiert.
Ohne Frage ist Bildung zumeist zum Code verdinglicht. Bescheidwissen, Dabeisein, Namen nennen, Leute kennen, die wiederum Leute kennen, Gepflogenheiten kennen und beherrschen und im Wissen ihres Besitzes auch ironisch brechen können, all das gehört zu den wohlgehüteten Merkmalen der Distinktion, die auch in bestimmten studentischen Milieus gepflegt wird. Das stellt natürlich immer wieder soziale Aufsteiger vor Probleme. Doch auch der Habitus ist nicht nur gegeben, er muss erhalten, erneuert, aufgefrischt werden. Unter dem Zwang, ihre gesellschaftliche Nützlichkeit permanent beweisen zu müssen, stehen alle. Baron sieht in den habituellen Codes allerdings allein eine Abgrenzung gegen Nichtakademiker, was er zumeist synonym mit Arbeitern verwendet, und im Falle, dass keine Abgrenzung erkennbar ist, soll es dann eben eine Vereinnahmung und Enteignung sein. Das ist wenig plausibel, setzt es doch – wie die von Baron durchaus kritisierte Critical Whiteness – Kultur oder spezifische Verhaltensweisen als Besitz von Gruppen voraus.
Besonders ärgerlich sind zudem zahlreiche analytische Widersprüche, die in dem Buch enthalten sind. Mal sind die Studenten allesamt die Topverdiener von morgen, mal sind sie schon größtenteils im sogenannten Prekariat aufgegangen, mal gibt es eine sich »stetig vergrößernde Kluft zwischen akademischer und nichtakademischer Bevölkerung«, mal dürfen die Akademiker auch berechtigt gemeinsam mit den Fließbandarbeitern bei Opel jammern (wobei letztere wohl größtenteils längst durch Industrieroboter ersetzt sein dürften und mehr ein Phantasma der Vergangenheit darstellen). Doch ein Haufen Widersprüche macht noch kein dialektisches Denken. Geht es um (oder gegen) die Studenten, so geht es auch mit den Kategorien wild durcheinander. »Studenten gehören zu einer Zwischenklasse, sie sind weder Kapitalisten noch Proletarier«, behauptet Baron. Studenten sind natürlich überhaupt keine Klasse. Die Tatsache, dass sie einen Teil einer Ausbildungsinstitution darstellen (im Gegensatz zur Verwaltung oder zu den Lehrkörpern), vereinheitlicht nicht ihre Reproduktionsbedingungen, was Kriterium einer gesellschaftlichen Klasse wäre. Studenten können Angehörige aller Klassen sein, sobald sie sich entschließen, zu studieren – wobei davon auszugehen ist, dass die Reichenkinder sich auf schicken Privatuniversitäten tummeln und die Kinder der Armen eher nicht studieren, womit als Resultat bleibt, dass die staatlichen Universitäten für alles dazwischen einen Platz bietet.
Doch neben der Lust an der doch auch sehr leicht von der Hand gehenden Herabsetzung des linken studentischen Milieus oder der grünalternativen Bürgerlichkeit im sogenannten Pregnancy Hill – was nur dadurch, dass es in seiner Borniertheit dargestellt ist, noch lange nicht trefflich kritisiert ist –, hat das Buch von Baron auch bessere Momente. Beispielsweise stellt der Autor die Veränderungen in der Rede über Arbeitslose und Arme dar, die zu moralisch verkommenen Subjekten, die als »Leistungsempfänger« quasi als Betrüger und Parasiten der Gemeinschaft dargestellt werden. Auch die Situation, die Angst und Scham der sozialen Aufsteiger werden geschildert, wenn auch nicht in der Eindringlichkeit, wie es in Frankreich Édouard Louis mit »Das Ende von Eddy« und Didier Eribon mit »Rückkehr nach Reims« gelungen ist.
Das Buch bleibt mit der Hypostase einer »positiven Lebenswelt« der nichtakademischen Arbeiter, mit Bier, Fußball und ruppiger Ehrlichkeit, die einer linksbürgerlichen Lebenswelt entgegengestellt wird, hinter den eigenen Ansprüchen zurück. Warum die Linken die Arbeiter verachten, wenn es denn stimmen sollte, ist mit ein paar Beobachtungen zum Habitus studentischer Milieus nicht erklärt. Schwerer wiegt da aber die nicht methodisch und begrifflich reflektierte Übernahme von scheinbar evidenten Kategorien wie »Arbeiter«. Das ist mit einem Verweis auf die Fließbänder und Eckkneipen eben nicht verständlich zu machen. Die Konzentration des Kapitals und Verwissenschaftlichung der Produktion haben in den ökonomischen Zentren zu einem Schwinden der industriellen Arbeiterklasse geführt, deren Bilder man heute zwar noch aufrufen kann, die aber gerade so nicht mehr existiert. André Gorz sprach 1980 schon vom »Abschied vom Proletariat«. Die gesellschaftlichen Veränderungen, auch der Universität, muss man analysieren, um einen Begriff der »klassenlosen Klassengesellschaft« (Theodor W. Adorno) geben zu können. Die Fokussierung auf die feinen Unterschiede besitzt in der »Abstiegsgesellschaft« (Oliver Nachtwey) nur beschränkte Erklärungskraft. Letztlich geht es dem Autor nur um Habitus. Doch wäre es nötig, eine Gesellschaft und ihre geschichtlichen Tendenzen zu begreifen. Das gelingt Baron allerdings nicht.
Christian Baron: Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2016, 288 Seiten, 13 Euro