»Marketa Lazarová« stellt Hass und Abscheu im 13. Jahrhundert dar

Kampf um Glaube und Macht

»Marketa Lazarová« wurde zum wichtigsten Film in der Geschichte Tschechiens gekürt. Nun kommt er in Deutschland ins Kino – mit einem halben Jahrhundert Verspätung.

Es gehört schon etwas Mut dazu, einen Film, der hierzulande bislang nie außerhalb von Festivals und Museen gezeigt wurde, 49 Jahre nach seiner Veröffentlichung auf die Kinoleinwände zu bringen. Selbst wenn »Marketa Lazarová« von František Vláčil als Meisterwerk der tschechischen Filmgeschichte gilt.
Kurz nach der Jahrtausendwende wurden dem Regisseur erste Retrospektiven gewidmet, 2007 erschien die erste DVD-Version von »Marketa Lazarová« außerhalb Tschechiens bei der englischen Firma Second Run, die sich auf preisgekrönte und ästhetisch wichtige Filme aus aller Welt spezialisiert hat. Es dauerte so lange, bis der Filmemacher internationale Aufmerksamkeit erhielt, weil seine Karriere nicht aufsehenerregend verlief, nur kurz aufflammte und dann unter der Sowjetzensur stagnierte. Schon seit den späten fünfziger Jahren arbeitete er mit Film und fand zu einer visionären Sprache, doch erst Jahrzehnte später wurde offensichtlich, dass er dabei eine ganze junge Generation des tschechischen Kinos geprägt hatte, die in den Sechzigern als »Tschechoslowa­kische Neue Welle« in die Geschichte einging. Vláčil war etwa zehn Jahre älter als die jungen Wilden von den Filmhochschulen, die später ihre Debütfilme drehten: Jan Němec, Evald Schorm, Pavel Juráček, Jan Schmidt, Ivan Passer, Jiří Menzel, Hynek Bočan, Juraj Jakubisko, Dušan Hanák, Elo Havetta, Drahomíra Vihanová.
Vláčils Historienfilme waren sperrig und seine frühen Werke wurden lange Zeit kaum gezeigt. Sein erster Spielfilm »Holubice« löst Zeit und Räumlichkeit in ihrer Logik auf, entwirft nicht realistische, sondern psychologische Innen- und Außenansichten und verhandelt in langen Einstellungen traumartige Perspektiven auf die Welt, auf die Kunst, auf das Kino, auf Spiritualität und Macht: Ein Künstler zeichnet eine weiße Taube auf schwarzem Untergrund. Er ist erschöpft, es ist Nacht. Er betrachtet. Und das Bild ist nicht das richtige. Schon einige Zeichnungen hat er weggeworfen, sie liegen auf einem Haufen in der Ecke, eine Katze ­namens Satan sitzt lauernd neben ihnen. Der Frust über sein künstle­risches Scheitern legt neue Energie frei. Sogleich nimmt er sein Messer, arbeitet fanatisch an einem neuen Vogel, schneidet ihn diesmal aus dem Papier heraus, als Gegenbild vielleicht. Der geschnittene Papiervogel, der fasziniert ihn.
Er geht zum großen Spiegel, blickt kurz hinein und übermalt ihn ganz in schwarz. Die Kamera springt durch das Glas, hinter das Glas, die schwarz bemalte Spiegelfläche wird bildfüllend, wie in einem Animationsfilm. Auf der anderen Seite arbeitet er ­weiter: Pinselstriche. Eine Sonne wird in die schwarze Farbe gemalt, ein Blumenfeld, alles ist negativ, mit starken Linien. Durch die Striche scheint das Licht von der anderen Seite. Und dann ist der Platz gefunden. Er klebt den schwarzen Vogel ins Bild, auf die bemalte Spiegelfläche. Der Vogel übertönt das dunkle Szenario wie ein böses Omen, unheimlich, riesenhaft. Im Druck auf ein Papier ergibt sich das Negativ, ein strahlend weißer Vogelkörper. Zu Deutsch heißt der Film »Die Weiße Taube«, kurz vor der Szene geht eine Frau über das Wasser. Mehr Symbolik geht nun wirklich kaum.
Der Kameramann Jan Čuřík und der Regisseur Vláčil wurden 1960 für ihren Film ausgezeichnet. Vláčil war zu dieser Zeit 36 Jahre alt, hatte nach seinem Studium der Kunst und Ästhetik Auftragsarbeiten für das Militär und erste Dokumentarfilme gemacht. Er war schon 1957 für seinen Film »Skleněná oblaka« (»Glass Skies«) ausgezeichnet worden, ebenfalls in ­Venedig. Reisen ins Ausland ermöglichten ihm den Blick auf die inter­nationale Filmsprache – wertvoll insbesondere für einen Filmemacher, der selbst in einem totalitär geprägten System lebt. Schon als seine Karriere begann, war ein historischer Umbruch im Gange, der auch einen ästhetischen Umbruch provozierte.
Nach Stalins Tod im Jahr 1953 wandelte sich das Verständnis von Filmkunst nicht nur in Tschechien. In ganz Osteuropa gerieten der Sozialrealismus sowjetischer Prägung und die Idee von Film als Propagandainstrument genauso ins Wanken, wie die Vermächtnisse Stalins und Lenins hinterfragt wurden. Im Tschechien der sechziger Jahre regierte noch der Staats- und Parteikommunismus. Aber die filmpolitischen Funktionäre waren andere geworden. All die Mittel, die einst für Propagandafilme gedacht waren, flossen nun auch in andere filmische Pönalisierungorhaben.
»Marketa Lazarová« ist ein Blick auf die Realität von Macht und Gewalt, auf Kämpfe um Glauben und Deutungshoheit. Kurz vor der großen Schlachtszene des Films grunzt der tyrannische Kozlík von seiner Festung den Hang hinunter: »Der König ist unser aller Herrscher. Aber der Krieg ist der Herrscher aller Könige.« Der Kerl steht zu seinem Wort, es wird garstig. Und garstig ist dieser Film auch, weil er versucht, die Wirklichkeit des 13. Jahrhunderts darzustellen. Alle Kulissen und Gesichter sind plausibel und ungekünstelt – man könnte den Film realistisch nennen, wenn er nicht so radikal in ­seiner Formsprache wäre. Die Kamera rast manchmal, wenn sie Leute auf ihren Fahrten durch die Natur begleitet. Es gibt traumatische Subjektiven, etwa wenn eine Vergewaltigung droht. Traummomente, Assoziationen und Visionen vermischen sich mit der Erzählung. Die Musik ist manchmal hysterisch, oft lässt sie sich nicht auf eine Stimmung ein, sondern bietet ein Gefühl oder gleich mehrere an. Ein Schnitt kann alles wieder umdeuten und man ist sogleich gefangen in einem Strudel historischer Wirrungen, immer wieder zerrissen zwischen Liebe und Hass, Abscheu und Schönheit, Ruhe und Hektik. Die Natur ist immer präsent, vielleicht als einzige Konstante und als Gegenbild zur Kirche. Wenn immer wieder die Wölfe lauern, dann ist das gleichermaßen ein Stimmungsbild und ein intellektuelles Angebot, ein unmittelbarer psychologischer und dabei stets auch parabelhafter Vorschlag. Diese ungehobelten Menschen fressen sich vor euren Augen gegenseitig auf und genießen dabei auch noch das Schlachtfest! Sie sind verwildert und doch Drahtzieher, Spielball und Urheber wechselseitiger Drohungen von Macht und Herrschaft.
Historisches Gewicht erlangt der Film schon allein durch seine Produktionsgeschichte: Über sechs Jahre hinweg arbeitete Vláčil an »Marketa Lazarová«. Als Grundlage fungierte ein experimenteller Roman des Schriftstellers und Filmemachers Vladislav Vančura. Dort geht es ebenfalls um Formwillen, es fehlen alle unmittel­baren Zeitbezüge, das Szenario ist historisch, aber zugleich losgelöst von der Realität. Autonom sozusagen, wie es auch Vláčils Formentscheidungen waren. Und doch war dem Regisseur zu einer Zeit des freiheitlichen Aufbegehrens gegen das autoritäre Regime eine klare Ver­ortung wichtig. Er recherchierte Details der tschechischen Geschichte und arbeitete diese sorgfältig aus, er drehte für »Marketa Lazarová« immerhin zwei Jahre lang. Die Schauspieler lebten über lange Phasen in den Kulissen des Films. Eigens für den Film gebaut, waren sie auch ein Ausstieg aus der tschechischen Gegenwart.
Der Stoff von »Marketa Lazarová« zeigt eine Traditionslinie des Widerstands. Das Buch war ein Bestseller in den dreißiger Jahren und wurde mit dem tschechischen Preis für Literatur ausgezeichnet. Sein Autor, ­Vladislav Vančura, hatte schon viel früher, bereits in den zwanziger Jahren, die Gruppe Devětsil mitbegründet, eine der einflussreichsten Avantgardebewegungen Tschechiens. Als die Nazis einfielen, schloss er sich dem kommunistischen Widerstand an und wurde umgebracht. Später dann errichteten die Kommunisten ein stalinistisches Muster­regime. Nach dem Prager Frühling stellten Vláčils Filme »Valley of the Bees« (»Údolí včel«, 1967) und »Adelheid« (1969) unangenehme Fragen. Ein Arbeitsverbot lähmte bald seine Karriere. Doch seine Filmadaption von »Marketa Lazarová« wurde 1998 von der tschechischen Filmkritik zum wichtigsten Film der Landesgeschichte erklärt.
»Marketa Lazarová« (CZ 1967). Regie: František Vláčil. Darsteller: Josef Kemr, Magda Vásáryová, Nada Hejna. Filmstart: 1. Dezember