Trotz des drohenden Rechtsrucks herrscht in der Bundespolitik Langeweile

Possen um Posten

Autoritäre Strömungen gewinnen in etlichen Ländern Anhänger. Die Politik der USA wird durch die Wahl Donald Trumps unberechen­bar. Die Europäische Union entwickelt bedrohliche Fliehkräfte. In Deutschland will angesichts der Bundestagswahl 2017 dennoch keine Spannung aufkommen.

Es gab einmal eine Zeit, da wurden Personalentscheidungen wie die Nomi­nierung des nächsten Bundespräsidenten oder die Kür der Kanzlerkandidaten von CDU/CSU und SPD von wochenlangem medialen Getöse begleitet. Aber das war einmal. Selbst erfahrenen Politjournalisten fällt es inzwischen schwer, daraus Schlagzeilen zu generieren. Auch den TV-Talkern war das Thema diesmal zu öde. Lieber debattierten sie über Donald Trump, Minuszinsen und Burkaverbot. Steinmeier soll Bundespräsident werden? Egal.
Dabei ist durchaus spannend, was derzeit in der deutschen Parteienlandschaft passiert – oder eben nicht passiert. Während Wladimir Putin und ­Recep Tayyip Erdoğan Syrien bombardieren, denkt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) über ein neues Personalmanagement nach, »das die Angehörigen der Bundeswehr wertschätzt«, auch wenn sie keinen Hauptschulabschluss haben. Während in den USA ein faschistoider Paranoiker an die Macht kommt, spielt Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit Rentenreförmchen. Während Frankreich an den Front National zu fallen droht, einigt sich die hiesige Große Koalition auf einen blassen Konsensbeamten als neuen Bundespräsidenten.
Einst wäre es ein echter Coup gewesen, wenn es der SPD gelungen wäre, unter CDU-Führung einen eigenen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten durchzusetzen. Diesmal jedoch hat der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel der Kanzlerin und CDU-Vorsitzenden Angela Merkel nur den perfekten Mann geliefert, um von störenden präsidialen Mahnungen verschont zu bleiben, ganz gleich mit wem sie künftig regieren wird. Das mediale Echo fiel entsprechend gelangweilt aus, insbesondere da Merkel nur sechs Tage später diese Nichtüberraschung mit der Nichtsensation ihrer erneuten Kandidatur konterte. Nicht einmal aus Bayern gab es Störfeuer, denn wer hätte es auch sonst machen sollen? Kein Zweifel, eine Reality-TV-Show mit solchen Höhepunkten wäre längst abgesetzt worden – und genau da liegt das Problem.
In Deutschland nennt man es Politikverdruss, in den USA hieß es »Kampf dem Establishment«, gemeint ist dasselbe. Seit der Neoliberalismus in den westlichen Demokratien die Gestaltungsmöglichkeiten der Politiker so weit reduziert hat, dass sie als bloße Verwalter handeln, verlieren Personalfragen stetig an Relevanz. Eigentlich eine optimale Situation, um mit einer ernsthaften linken Alternative aufzutrumpfen und die Vorzeichen der Globalisierung umzuschreiben – sollte man denken. Aber weder findet sich eine solche Alternative auf den Wahlzetteln, noch hätte sie derzeit Chancen, tatsächlich gewählt zu werden. Denn das neoliberale Dogma haben nicht nur die Politiker verinnerlicht, sondern auch die Wähler. Insofern reduziert sich deren politischer Anspruch auf dumpfe Performance-Kritik – man will einfach besser unterhalten werden  – und die Sehnsucht nach einem Ablassventil für aufgestauten Frust – Aus­länder, Feminismus, die ganze »links-grün-verschwulte« Gesellschaft – sowie irgendeinem Irrlicht der Selbsterhöhung wie Nation, Volk, Kultur.
Der Rückfall in partiellen Protektionismus und Nationalstaaterei, für den Donald Trump, Marine Le Pen und hierzulande die AfD stehen, geht zwar einher mit der Beschränkung persön­licher Freiheitsrechte, das neoliberale Dogma dagegen tastet er nicht an – und das soll er auch gar nicht. Viel wurde zuletzt über den »Aufstand der Alten gegen die Jungen« oder den »Aufstand der Provinz gegen die Metropolen« geschrieben, aber vor allem erleben wir den Aufstand eines mauligen Kleinbürgertums gegen sozial Schwächere. Didier Eribon beschreibt in seinem Buch »Rückkehr nach Reims« (­siehe Dschungel, Seiten 12/13)seine Irritation darüber, dass das alte kommunistische Proletariat, aus dem er stammt, plötzlich den Front National wählt, und zieht daraus den Schluss, die europäische Linke habe die Arbeiter­klasse vergessen. Das ist zwar nicht ganz falsch, aber Eribon übersieht, dass seine Eltern genau so lange die Kommunisten wählten, wie sie besitzlos waren. Nun wohnen Mutter und Brüder in kleinen Reihenhäusern mit auf Kredit gekaufter Couchgarnitur. Von der revolutionär gestimmten Arbeiterklasse, der sie einst angehörten, unterscheidet sie das Gefühl, etwas zu verlieren zu haben. Als auf Besitzstandswahrung getrimmte Kleinbürger haben sie Angst vor mittellosen Flüchtlingen, vor Arbeitsmigration und davor, den »faulen« ­Süden der EU mit ihren Steuergeldern finanzieren zu müssen. Wenn ihre ­neuen Polithelden nebenbei noch ein bisschen Pressefreiheit abschaffen und die Rechte homo- und transsexueller Menschen beschneiden, dann sind das bestenfalls Kollateralschäden, denen sie keine Träne nachweinen.
Da könnten die Postenpossen des Berliner Politpersonals fast beruhigend wirken, wenn nicht so offensichtlich wäre, dass genau dieses »Weiter so« der größten Wirtschaftsmacht in der EU die europäischen Fliehkräfte weiter verstärkt und den Aufstieg der AfD ebenso vorantreibt wie die Renaissance nationalistischer Positionen in dem, was von der parlamentarischen Linken noch übrig ist. Letzteres lässt die rechnerisch fragliche Perspektive einer rot-rot-grünen Koalition fast noch bedrohlicher erscheinen als die stumpfe Fortsetzung der Merkel-Regierung. Die Sub­stanzlosigkeit einer solchen »linken« Alternative machte Dietmar Bartsch (Linkspartei) deutlich, als er kürzlich sagte: »Herr Gabriel könnte nächste Woche Kanzler sein, wenn er und die SPD wollten.« Wirklich? Jener Gabriel, der sich als erster Bundespolitiker mit Verständnis für Pegida-Anhänger hervortat und dabei zu dem Schluss kam, es gebe »ein Recht, deutschnational zu sein«? Jener Gabriel, der im April 2015, als wieder einmal Hunderte von Flüchtlingen im Mittelmeer ertranken, »­einen internationalen Einsatz gegen Schlepperbanden« forderte? Gut, mit Sahra Wagenknecht könnte er wohl eine gemeinsame Ebene finden. Aber was verleitet die Linkspartei zu dem Gedanken, überhaupt mit der SPD im Bund koalieren zu können? Hat erstere etwa inzwischen die angebliche Notwendigkeit der Hartz-VI-Gesetze verinnerlicht, oder hat sich letztere vielleicht von ihrer neoliberalen Politik distanziert? Zu hören war davon nichts. Und gänzlich unklar bleibt, welche Rolle den in das konservative Milieu abdriftenden Grünen in einem solchen Bündnis zukäme.
Die Entscheidung über die SPD-Kanzlerkandidatur ist  – zumindest öffentlich – noch nicht gefallen, auch wenn die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft aus der Streberbank schon schnipsend den Arm lang machte und rief: »Ich weiß, wer es wird, aber ich sage es Ihnen nicht!« Man mag das als hilflosen Versuch interpretieren, nach dem Rohrkrepierer von Steinmeiers Nominierung und Merkels erneuter Kandidatur den Blick zurück auf die SPD zu lenken. Dumm nur, dass es den meisten Leuten inzwischen völlig egal zu sein scheint, wer für die Sozialdemokraten ins Rennen geht.
Es ist ja auch nicht so, dass Martin Schulz, trotz höherer Beliebtheitswerte als Gabriel, das Zeug zum strahlenden Helden hätte. »Sieger sehen anders aus«, dachte sich wohl auch der Spiegel und brachte schnell noch den Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz ins Gespräch, um aus der vertrockneten Zitrone dieser Kandidatenkür noch ­etwas medial verwertbaren Saft zu quetschen. Dabei gab es jenseits der Kanzlerkandidatur durchaus einen gewissen Nachrichtenwert hinter dem Wechsel des Europaparlamentspräsidenten Martin Schulz in die Bundespolitik. Denn was sagt es über den Zustand der EU, wenn sich ein Politiker, der sich stets für eine europäische Regierung und die Beschränkung nationaler Souveränität stark gemacht hat, freiwillig zurück auf die nationale Bühne begibt? Sicher nichts Gutes. Die Trumps, Erdoğans, Putins und Le Pens dieser Welt dagegen dürfte es ebenso freuen wie die AfD und deren linksnationale Geistesverwandte hierzulande. Wer dagegen bei dieser fatalen Gemengelage am Ende für welche Partei den Kandidaten gibt, ist wohl tatsächlich erschreckend egal.