Ein Tatort der Judenverfolgung droht der Gentrifizierung zum Opfer zu fallen

Wenn Geschichte aus dem Kiez verschwindet

In einem Haus in Berlin-Kreuzberg wurden im Nationalsozialismus Juden für die Zwangsarbeit eingeteilt. Das Gebäude soll nun zu einem Büro-und Wohnkomplex werden. Dagegen regt sich Widerstand.

Zurzeit hängt zwar kein Blatt an den Ästen, im Sommer ist das Grün der Bäume an der Berliner Fontanepromenade aber so dicht, dass es den Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite versperrt. Die Vorgärten sind hier noch immer hübsch eingezäunt. Ein Stadt­idyll zwischen den prächtigen, mit Stuck verzierten Altbauten, von deren Balkonen bunte Geranien ranken. Hier, unweit des U-Bahnhofs Südstern, ist sogar die Welt in Kreuzberg noch heil, zumindest für diejenigen, die sich die hohen Mieten in den frisch sanierten Altbauten leisten können.
Auch das Haus mit der Nummer 15, dessen Putz derzeit noch bröckelt, soll bald saniert werden. Der einstöckige Bau, 1906 im neobarocken Stil von der Fuhrwerk-Genossenschaft erbaut, hat in der Investorin Stephanie Kohm eine neue Eigentümerin gefunden. Seit 2010 steht das Haus leer. Vorher war eine mittlerweile aufgelöste Mormonen-Gemeinde Eigentümerin und hatte das Gebäude als Gotteshaus genutzt. Dessen Umbau zu Wohn- und Büroeinheiten ist inzwischen in vollem Gange.
Doch das soll aufhören, wenn es nach der Bürgerinitiative »Gedenkort Fontanepromenade 15« geht, die sich gegen die Nutzung des Hauses zu Wohn- und Geschäftszwecken wehrt. Eine Gedenktafel verweist auf die dunkle Vergangenheit des Gebäudes als ehemalige »Zentrale Dienststelle für Juden« – eine Behörde des Berliner Arbeitsamts zur Zeit des Nationalsozialismus, die jüdische Männer und Frauen zur Zwangsarbeit einteilte. Die Anwohnerin Stella Flatten hatte 2013 die Geschichte des Gebäudes recherchiert und in Kooperation mit dem »Aktiven Museum Faschismus und Widerstand« die Anbringung der Gedenktafel erreicht. Mehr als 26 000 Jüdinnen und Juden teilte die Behörde zwischen 1938 und 1945 zur Zwangsarbeit ein. Gemeinsam mit der Gestapo entschied das Amt auch, wer deportiert wurde.
Als »Schnittstelle zwischen Verwertung und Vernichtung« bezeichnet Lothar Eberhardt das Haus. Eberhardt setzt sich seit Jahren für den Erhalt historischer Orte in Berlin ein. Teils als zu »100 Prozent Engagierter« gefeiert, teils als lästiger Langzeitquerulant abgetan, kämpft er ohne Unterlass. Gegen Gentrifizierung, gegen Enthistorisierung und zurzeit besonders gegen den Umbau in der Fontanepromenade 15. »Schwaben-Lothar« ist einer, der sich selbst gerne sprechen hört und schwer zu stoppen ist, wenn er sich in Rage geredet hat. Er ist aber auch einer, der die Gentrifizierung in Berlin schon als Problem erkannte, als andere sie noch als halb so wild abtaten. Nach Beginn der Umbauarbeiten an dem unter Denkmalschutz stehenden Gebäude im Oktober gründete Eberhardt die Bürgerinitiative »Gedenkort Fontanepromenade 15«, die seitdem einen Baustopp erzwingen will.

Mehr als 26 000 Jüdinnen und Juden teilte die Behörde zwischen 1938 und 1945 zur Zwangsarbeit ein. 

Die zwei Meter hohe, in Metall gerahmte Gedenktafel, die mit Bildern und Texten die Funktion des Gebäudes im Nationalsozialismus erklärt, ist ihm und der Bürgerinitiative nicht genug. Auch die gelb angestrichene Bank reicht ihnen nicht. Sie ist eine Erinnerung daran, dass vor der Dienststelle wartende Juden nur auf dieser Sitzmöglichkeit Platz nehmen durften. Die Anwohner hatten sich über die oft stundenlang Wartenden beschwert, die übrigen Bänke wurden deshalb für »Arier« reserviert. Die Initiative fordert, aus dem Haus ein Museum zur Dokumentation der NS-Zwangsarbeit zu machen. »Es ist ein absoluter Skandal, dass dieser geschichtsträchtige Ort der Immobilienspekulation geopfert und nicht als Museum über jüdische Zwangsarbeit genutzt wird«, sagt Eberhardt. »Wir fordern den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg dazu auf, die Baugenehmigung sofort zurückzunehmen und den Bau zu stoppen.«
Die Chancen stehen schlecht. Nicht zuletzt, weil der Widerstand spät einsetzte. Bereits im Frühjahr 2015 hatte das Immobilienunternehmen Engel & Völkers das Objekt für einen Preis von etwa 800 000 Euro zum Verkauf angeboten. Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg gab auf Anfrage der Berliner Zeitung an, dass man gegen einen Verkauf nur wenig habe tun können. Der Bezirk wollte das historische Gebäude offenbar nicht kaufen. Man hoffe auf eine angemessene Nutzung, heißt es mittlerweile. Die Bürgerinitiative versucht, auf allen Ebenen Unterstützer zu gewinnen und fordert in einem offenen Brief zahlreiche Kommunal,- Landes- und Bundespolitiker auf, sich für einen Baustopp und die Errichtung eines Museums in öffentlicher Hand einzusetzen.
Bisher gab es sehr wenige Reaktionen, nicht nur von Politikern. Selbst die Gedenktafelkommission Kreuzberg, die maßgeblich für die Gedenkstelle in der Fontanepromenade 15 verantwortlich war, sprach sich bereits 2013 gegen eine Nutzungserweiterung als Museum aus. Der jüdische Historiker Hermann Simon,  ehemals Direktor der »Stiftung Neue Synagoge«, sagt: »Es ist natürlich wichtig, dass das Gebäude in der Fontanepromenade 15 weiter ein Ort des Gedenkens bleibt. Ich halte aber nichts davon, dort ein weiteres unterfinanziertes Museum zu errichten. Es gibt ohnehin schon zu viele solcher Einrichtungen, die alle um ihre Existenz kämpfen.« Er befürwortet die Bündelung historischen Gedenkens wie beispielsweise im »Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit« im Berliner Stadtteil Schöneweide. Es ist eine Glaubensfrage unter Historikern: Klasse statt Masse, sagen die einen, Vielfalt statt Monopol, die anderen. Simon fürchtet die zermürbende Nichtigkeit eines kleinen Museums, dem das Geld fehlt, Eberhardt die »Enthistorisierung« Kreuzbergs.
Es scheint, dass er und die Bürgerinitiative »Gedenkort Fontanepromenade 15« damit allein sind. Eberhardt dürfte das nicht daran hindern, weiterzumachen. »Es reicht nicht, den Ort als Gedenkstelle zu markieren«, sagt er. »Wir werden deshalb nicht aufhören, den Baustopp zu fordern, um die Enthistorisierung Kreuzbergs abzuwenden.«