Das zweifelhafte geschichtspolitische Konzept des Berliner Humboldt-Forums

Ein Museum erklärt die Welt

Das vielkritisierte Humboldt-Forum im künftigen Berliner Stadtschloss setzt auf Dekolonisierung. Doch Zweifel sind angebracht.

Ein »Basislager für eine Weltreise« soll das Humboldt-Forum in Berlin werden, ein »Epizentrum einer neuartigen Beziehung mit der Welt«, ein »Ort des Weltverstehens«, mit dem der »Kosmos der Objekte sichtbar« gemacht werde: Wer die Welt verstehen will, geht also ins Humboldt-Forum Mit solchen Formeln präsentierten die drei Männer der Gründungsintendanz kürzlich das neue Ausstellungskonzept. Der britische Kunsthistoriker und frühere Direktor des British Museum, Neil MacGregor, der Kunsthistoriker Horst Bredekamp sowie der Prähistoriker und Leiter der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, greifen zu schwindelerregenden Superlativen, wenn es darum geht, das umstrittene Vorhaben in Berlins Mitte anzupreisen. Es wird als das derzeit bedeutendste kulturpolitische Projekt in Deutschland und als das größte seiner Art in Europa beschrieben. »Im Herzen der Republik gibt es jetzt die Gelegenheit, die Kulturgeschichte der Menschheit ganz neu zu erzählen«, verkündete die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters (CDU). Im Chor überhöht dieses Quartett das Humboldt-Forum und jubelt es zur kulturpolitischen Großtat Deutschlands hoch.

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz plant das Humboldt-Forum als Ausstellungsort außereuropäischer Kunst und Kultur im zukünftigen Berliner Stadtschloss. Dort, wo einst der Palast der Republik stand, wird derzeit für etwa 600 Millionen Euro das Schloss der Hohenzollern als energieeffizienter Betonbau wiederaufgebaut. Die originalgetreuen Nachbildungen des Eckrondells, der Lorbeerfestons, der Wappenkartuschen und Backsteinfassaden, die angeblich etwa ein Fünftel der Bausumme ausmachen, werden von Spendern finanziert. Von Pyrmont über Halberstadt bis nach Hamburg haben sich zu diesem Zweck Förder- und Freundeskreise gebildet.

Das alte Berliner Schloss wurde 1443 im Auftrag der Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg errichtet, die ab Ende des 17. Jahrhunderts mit dem Handel mit versklavten Menschen aus Westafrika Geld verdienten. Ab 1702 diente es als königliche Residenz in Preußen, ab 1871 als kaiserlicher Hof in einem Deutschen Reich, das begann, sich einen »Platz an der Sonne« zu erobern und Gebiete in Afrika, China und Ozeanien militärisch zu besetzen. Das Schloss war auch Residenz des für den Völkermord an den Herero und Nama von 1904 bis 1908 verantwortlichen Kaisers Wilhelm II.

In diesem mit nationalen und kolonialen Symbolen aufgeladenen Bau soll ein »einzigartiges Zentrum«, ein »Treffpunkt von Menschen aus aller Welt – unabhängig von Herkunft, Alter, Ausbildung, Interessen, Vorwissen oder Vorlieben« entstehen. Das Humboldt-Forum trage dazu bei, ein »aktuelles Verständnis unserer globalisierten Welt zu vermitteln«, und stehe für »ein respektvolles und gleichberechtigtes Zusammenleben der Kulturen und Nationen«. Im Stil einer Ariel-Klementine aus der Fernsehwerbung der Sechziger heißt es: »Wer die Welt verstehen will, geht ins Humboldt Forum.« Diese vermeintlich universale Welterklärung kommt hochtrabend daher, um nicht zu sagen deutsch-europäisch anmaßend. Noch dazu soll das Vorhaben ausgerechnet mit den ungefähr 500 000 Objekten aus den außereuropäischen Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin verwirklicht werden. Allein die Afrika-Sammlung umfasst etwa 75 000 Objekte, die allermeisten davon gelangten während der Kolonialzeit nach Berlin. Diese Anhäufung von ethnographischen Objekten – etwa Besteck, Schmuck, Grabbeigaben, Masken, Waffen, Boote, Kleidung, Skulpturen – entstammt einem bestimmten Aneignungssystem innerhalb der kolonialen und rassistischen Wissensproduktion und ist zugleich ein Ausdruck europäischer Kontrolle und Macht. Gewaltsame Enteignung, Raub oder Schenkungen im Kontext ungleicher Machtverhältnisse bildeten die Grundlage für die Akkumulation dieser Objekte. Sie werden immer noch in Museen zur Schau gestellt und bedienen den kolonialen Blick. Die Herkunftsgeschichte der Objekte erwähnen die Museen selten, auch die Auswirkungen des Fehlens dieser Objekte in den Herkunftsgesellschaften bleiben in der Regel unbeleuchtet. Ebenso selten werden die Art der Präsentation von Objekten und die Deutungshoheit von Museen und deren Kategorisierungen hinterfragt. Der Schritt mag schwerfallen. In seiner Konsequenz stellt er eine fast 200jährige Geschichte europäischer musealer Selbstvergewisserungen, kolonialer Gepflogenheiten und Objektfixierungen in Frage. Und: Ein solcher Schritt könnte manchen Völkerkundemuseen sogar die Existenzberechtigung im 21. Jahrhundert und die materielle wie ökonomische Grundlage entziehen.

Noch 2011 schrieb Parzinger, dass die Berliner Bestände auf ein »einmaliges und weitverzweigtes Netz von Sammlern und Ankäufern zurückgingen und auf »legale Weise« entstanden seien. »Die Berliner Museen sind deshalb rechtmäßige Besitzer ihrer Bestände«, so Parzinger. Anfang 2015 hieß es aus dem Ethnologischen Museum, dass in der Afrika-Sammlung die »Zahl von Objekten, deren Erwerbungszusammenhang nach aktuellem Forschungsstand als kritisch zu betrachten ist, eher gering« sei. Zugleich und im Widerspruch dazu wurde aber betont, dass die Beurteilung wegen der oft unzureichenden Quellenlage nicht einfach sei und in vielen Fällen aufwendige Recherchen erfordere.

Provenienzforschung findet offenbar bei einigen Objekten auch statt, insbesondere bei denen, die im Humboldt-Forum präsentiert werden sollen. Aber seit Jahren erfährt man sehr wenig über die konkreten Ergebnisse. Immerhin hat das »Humboldt-Lab Dahlem« mittlerweile darauf hingewiesen, dass das bekannte, fast lebensgroße Figurenpaar aus dem widerständigen Königreich Kom im heutigen Kamerun aus »gewaltvollen Sammlungskontexten« stamme. Bekannt dürfte dieser Umstand bereits seit 1905 sein, immerhin wurde der Raub von Kunstschätzen aus dem Palast in Laikom nach einer »Strafexpedition« der Kaiserlichen Schutztruppe sogar fotografisch dokumentiert. Der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zufolge liegen aber keine »offiziellen Rückgabeforderungen von staatlicher Seite« vor.

Bekannt ist auch die Geschichte der Benin-Objekte, zumeist Figuren aus Bronze. Diese waren nach der Plünderung des Palasts in Benin City 1897 durch die britische Armee auf den europäischen Kunstmarkt gekommen und dort von deutschen Museen in Hamburg, Köln, Dresden, Leipzig und Berlin erworben worden. Im Humboldt-Forum möchte man größtmögliche Transparenz der Erwerbungsumstände herstellen, so auch bei den Benin-Reliefs: Während man von vorn die kunstvollen Darstellungen der Stücke bewundern könne, werde der Besucher auf deren Rückseite mit der Erwerbungsgeschichte konfrontiert, etwa mit Interviews, Filmen und Fotos, die Ursachen und Folgen der Kolonialisierung thematisierten. Insofern seien die Objekte nicht als problematisch zu bezeichnen, heißt es bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Auch das Hamburger Völkerkundemuseum stellt, gegen Eintritt, die Figuren aus – mit dem lapidaren Hinweis, dass viele Museen, in Nigeria wie auch hierzulande, über die »moralischen Konsequenzen dieser zwar juristisch nicht mehr anfechtbaren, aber blutigen Erwerbsgeschichte« diskutierten.

Die Initiative »No Humboldt 21!« kritisiert, dass das Konzept des Humboldt-Forums die Würde und die Eigentumsrechte von Menschen verletze. Weder seien die staatlichen Museen Berlins die rechtmäßigen Besitzer all ihrer Bestände, noch werde die Erforschung außereuropäischer Kulturen an sich problematisiert. Die Initiative bemängelt auch, dass die Provenienzforschung nicht den Stellenwert bekommt, der erforderlich sei. Denn nur wenn bekannt werde, woher und unter welchen Umständen ein Objekt nach Berlin gelangte und welche Bedeutung es in der Herkunftsgesellschaft hatte, könne entschieden werden, ob und wie es angemessen ausgestellt werde.

Inzwischen schlagen die Kuratoren des Humboldt-Forums kritischere, wenn auch nicht unbedingt bescheidenere Töne an: Unter dem Stichwort »Shared Heritage« sollen ehemals kolonialisierte Länder und Gesellschaften aktiv in die Erinnerungsarbeit einbezogen, Kooperationen intensiver werden. Parzinger sprach Ende 2016 gar von einer »Demokratisierung und Dekolonisierung« des Museums. Er möchte die deutschen Kolonialkriege thematisieren und kostenlosen Zutritt für alle ermöglichen. Und er fragt sich, wie mit berechtigten Anliegen und Ansprüchen umzugehen sei. Man müsse angesichts von Raubobjekten aus dem heutigen Tansania überlegen, »Stücke zurückzugeben«. Gleichwohl betont er: »Es kann nicht darum gehen, die Museen leerzumachen.« Parzinger verweist auf ein ausgeprägtes »vorkoloniales Sammeln« von Objekten. »Vorkolonial« bedeutet bei ihm allerdings, dass die Objekte vor der formalen, etwa 30 Jahre andauernden Kolonialherrschaft des Deutschen Reichs erworben wurden. Das Sammeln und Aneignen im Kontext von mehreren Jahrhunderten europäischer kolonialer Expansion firmiert wohl eher unter den Stichworten »Aufklärung«, »Entdeckung« und »Neugier«. In all der Rhetorik von »Shared Heritage« werden zudem ungleiche Macht- und Ressourcenverhältnisse zwischen Staaten, Universitäten, Museen, nichtstaatlichen Assoziationen und traditionellen Verbänden sowohl hierzulande als auch in den ehemals kolonisierten Gebieten ausgeblendet. Die Zweifel daran, dass im September 2019 tatsächlich ein dekolonisiertes Museum mit freiem Eintritt eröffnet, sind berechtigt.