Russland ist ein Racket-Staat

Der Meister der Rackets

Wladimir Putin hat es meisterlich verstanden, die Konflikte einer in Rackets zerfallenden Gesellschaft zur Festigung seiner innen- wie außenpolitischen Macht zu nutzen.

»Wenn Demokratie Staatszerfall bedeutet«, sagte Wladimir Putin im September 2003 im Gespräch mit der Washington Post, »dann brauchen wir keine solche Demokratie.« Seit er sein Amt als russischer Staatspräsident im Jahr 2000 zum ersten Mal angetreten hat, inszeniert sich Putin als Verkörperung eines starken Staats. Kein Horror sei ihm größer als der des failed state, bekräftigte Putin im September 2016 gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg. Der Grund für das russische Eingreifen in Syrien zugunsten von Bashar al-Assad sei derselbe wie der für seine Ablehnung des militärischen Sturzes der Regimes im Irak und in Libyen: »Wir sehen ja, wohin das geführt hat: zur Zerstörung der Staatlichkeit und zum Aufstieg des Terrorismus.«
Die von Putin propagierte Haltung wird häufig biographisch erklärt: Als er sein Amt antrat, drohte das, was von der einstigen Sowjetunion noch übrig geblieben war, im Kampf von um die Beute ringenden Machtfraktionen unterzugehen. Reguläre Wirtschaftstätigkeit und die Aktivitäten der kriminellen Unterwelt seien damals praktisch ununterscheidbar gewesen, so der Historiker Walter Laqueur. Falls Ausmaß und Umstände dieser Racket-Kämpfe jemals publik würden, »könnten sie die Geschehnisse in der Ära der amerikanischen Räuberbarone vergleichsweise wie Gezänk in einem Kindergarten erscheinen lassen«.
Das Bruttoinlandsprodukt stürzte nach 1991 ins Bodenlose. Zugleich hätten sich die einstigen Mitglieder der sowjetischen Nomenklatura binnen weniger Jahre zu den wohlhabendsten Russen gemausert, schreibt der Soziologe Alfredo Schulte-Bockholt. Er zitiert den damaligen für Privatisierung verantwortlichen Minister mit den Worten, das frühere Staatseigentum gehöre schlicht denjenigen, die ihm am nächsten seien. Auch die Mafia mischte kräftig mit. Deren Unterwanderung der politischen Machtstrukturen führte nicht nur zur Verzögerung ökonomischer Reformen, sondern auch dazu, dass Unternehmen zur Kooperation mit der Mafia regelrecht gezwungen waren. Das »System Putin«, so eine geläufige Darstellung in den deutschen Medien, habe mit dem Unwesen der Beuteherrschaft jedoch aufgeräumt und die staatliche Souveränität wiederhergestellt.
Bei näherer Betrachtung entpuppt sich Putin jedoch vielmehr als ein Machtpolitiker, der es meisterlich verstanden hat, die Konflikte einer in Rackets zerfallenden Gesellschaft zu seinen Gunsten zu kanalisieren. Den Terminus »Racket« hat der Philosoph Max Horkheimer in den dreißiger Jahren aus der US-amerikanischen Soziologie entlehnt. War er dort zunächst für Mafia-Praktiken reserviert, fasst Horkheimer darunter das Prinzip nachbürgerlicher Vergesellschaftung: Konkurrierende Gruppen, die zum Wohle der eigenen Mitglieder einmal errungene Vorteile zum Nachteil der restlichen Gesellschaft monopolisieren. Es gehöre zum Wesen der Rackets, dass sie »einzig das Gesetz der Selbsterhaltung« kennen. Schutz wird nur im Gegenzug für bedingungslose Loyalität gewährt, wobei die Gewalt, vor der die Rackets zu schützen behaupten, wesentlich von ihnen selbst ausgeht.
Putin hat die konkurrierenden Rackets in der Russischen Föderation nicht zerschlagen, sondern sich geschickt an ihre Spitze gesetzt. Geholfen haben ihm dabei sowohl seine Zeit beim KGB als auch die Seilschaften, die er während seiner Tätigkeit in der Stadtverwaltung von Sankt Petersburg gebildet hat. Nach seinem Amtsantritt machte sich Putin unverzüglich daran, das unter Boris Jelzin errichtete System der Gewaltenteilung  – so mangelhaft es auch war – zu zerstören, indem er etwa den Föderationsrat, eines der wichtigsten Instrumente der horizontalen checks and balances, entmachtete. Nicht nur ordnete Putin das Recht der Politik unter, weil, wie er sagte, die Selbstverteidigung des Staates eben über das Recht zu setzen sei. Das Recht wird zudem von ihm, wie in dem Prozess gegen den Unternehmer Michail Chodorkowski zur Schau gestellt, auch nach Belieben instrumentalisiert.
Statt der rule of law regiert in der Russischen Föderation also Wladimir Putin an der Spitze seiner von ihm so bezeichneten »Vertikale der Macht«, allerdings ohne die Verfassung formal außer Kraft zu setzen. Politikwissenschaftler tun sich schwer damit, diesen Zusammenhang begrifflich zu fassen. So wird mal von der »Imitation eines rechtsstaatlichen Systems«, mal von einem »Para-Konstitutionalismus« gesprochen, und sogar die von Ernst Fraen­kel für die Anfänge des Nationalsozialismus geprägte Rede vom »Doppelstaat« wird bemüht.
Doch diese Erklärungsansätze werden nicht zuletzt den Konkurrenzkämpfen innerhalb des von Putin geschaffenen Klientelsystems nicht gerecht. Wie die Politologin Margareta Mommsen und die Rechtswissenschaftlerin Angelika Nußberger schreiben, verläuft das Mit- und Gegeneinander der von Putin mit Macht versehenen informellen Gruppen der Oligarchen und Silowiki, der hochrangigen Funktionäre in Wirtschaft und Staatsapparat, dynamisch und ohne jede Spielregeln. Putin fungiert als Vermittler der als Rackets strukturierten Machtfraktionen.

Da ein staatliches Gewaltmonopol in der Russischen Föderation gleichwohl existiert, ist diese am ehesten als Racket-Staat zu bezeichnen.

Da ein staatliches Gewaltmonopol in der Russischen Föderation gleichwohl existiert, ist diese am ehesten als Racket-Staat zu bezeichnen. Die Einheit dieses Staates ist allerdings notwendig prekär und beruht nicht zuletzt darauf, dass es genügend zu verteilen gibt. Putins integrative Funktion ist umso gefährdeter, je weniger dies der Fall ist und je weniger sich ein für alle Machtfraktionen akzeptabler Kompromiss erzielen lässt, dem Putin als Staatspräsident sodann die nötige Faktizität verleiht. Doch der Ölpreis ist erheblich gesunken, die Diversifizierung der russischen Wirtschaft ist gescheitert und diese befindet sich in einer fundamentalen Krise. Die Kämpfe der verschiedenen Rackets »um die zu verteilenden Profite sind brutaler geworden«, stellte daher der Economist im vergangenen Oktober fest. Dabei zeige sich auch, dass das Eigentumsrecht immer unter Vorbehalt von Putins Gnade stehe.
Um seine Position abzusichern, vollzieht Putin derzeit einen Generationswechsel innerhalb seiner Entourage. Die Mitglieder der alten Seilschaften werden sukzessive durch Jüngere ersetzt, die ihren Aufstieg voll und ganz dem Staatspräsidenten zu verdanken haben. Auch der Geheimdienst FSB wird zum Nachteil aller anderen Exekutivorgane ausgebaut und akkumuliert sowohl wirtschaftliche als auch politische Macht. Wie der FSB untersteht die im vergangenen April geschaffene Nationalgarde unmittelbar dem Staatspräsidenten.
Doch Putin weiß, dass er sich nicht allein auf Repression verlassen kann. Dem Racket-Modus entspricht die Beschwörung einer homogenen Einheit, die gegen Feinde von innen und außen zu verteidigen sei. Nationalistische und antiwestliche Strömungen der Gegenwartskultur werden konsequent unterstützt und in Gestalt von Figuren wie dem Eurasien-Ideologen Alexander Dugin mit Nähe zur Macht belohnt. Gleiches gilt für die Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche, die nicht nur religiöse Legitimation gewähren, sondern teils einen aggressiven Antisemitismus befördern. Im ungezügelten Hass auf Homosexuelle kulminiert die staatlich propagierte Verachtung sogenannter westlicher Werte und »Dekadenz«. Diese Verachtung ist es auch, mit der Putin derzeit von rechts bis links in Europa so erfolgreich hausieren geht, und die ihn mit seinen Partnern in Damaskus und Teheran vereint.
Putins außenpolitische Ziele sind nicht nur innenpolitisch motiviert und, als Ersatz für die schwindende Stabilität des Systems, auf die Stärkung eines ethnisch konnotierten neoimperialen Patriotismus gerichtet, der eine Expansion des »Russischen« weit über die Grenzen der Russischen Föderation hinaus phantasiert. Seine Außenpolitik zielt auch auf die Destabilisierung der geopolitischen Konkurrenten und entspricht somit der bereits von Karl Kraus benannten »weitblickenden Politik« des erfolgreichen Rackets, das überall die »Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos« erkennt und nutzt, ob es sich nun um den Zerfall der Europäischen Union handelt oder um den syrischen Bürgerkrieg. Erfolgreich ist das Racket, das sich – bar jeden Glücksversprechens – als alternativlose Schutzmacht präsentiert. Das ist Putins zynische Lehre über den Zusammenhang von Staatszerfall und Demokratie.