Das Elend im größten informellen Flüchtlingslager Europas

Frieren vor den Toren der EU

Im Zentrum Belgrads liegt das größte informelle Flüchtlingslager Europas. Serbien schafft nicht genug Plätze in Aufnahmezentren. Es gibt aber auch andere Gründe, warum die Flüchtlinge, darunter viele Minderjährige, trotz der Minustemperaturen lieber in verfallenen Lagerhallen in der Hauptstadt schlafen.

Belgrad, die weiße Stadt, ist in Schnee gehüllt. In alten Lagerhallen hinter dem Busbahnhof hat sich das größte informelle Flüchtlingslager Europas gebildet. 1 500 Menschen leben in den Ruinen, die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan. Vor den verfallenen Hallen stehen Männer in einer kleinen Schlange an einer der beiden Wasserquellen des Lagers. Einer putzt sich die Zähne, ein anderer wäscht sich die Füße, die Notdurft wird in den Büschen verrichtet. Neben dem Schlauch, aus dem das Wasser kommt, steht ein rostiges Fass über einer Feuerstelle. Einer der Männer zeigt lächelnd darauf und sagt: »Das ist unsere Dusche.« Sanitäre Anlagen gibt es nicht. Die Not macht erfinderisch.
In den Ruinen hat sich eine reine Männerwelt gebildet, weil Frauen und Mädchen in den serbischen Aufnahme- und Asylzentren unterkommen. In den Hallen wird Feuer mit Holz von der Straße gemacht und mit allem, was sonst noch brennt. Alte Balken aus den Schienenanlagen neben dem Gelände wurden zu Feuerholz verarbeitet. Kalt ist es trotzdem. In den heruntergekommenen Gebäuden steigt beißender Rauch auf. Nach wenigen Minuten beginnt die Lunge zu schmerzen und die Augen tränen. Bei Minusgraden haben die Menschen dort nur die Wahl zwischen Husten und Frieren. Die meisten, die sich um das Feuer sammeln, sind krank.
Der neunjährige Hamraz wärmt seine Hände am Feuer und hustet. Seit zwei Monaten lebt der Junge in den Ruinen. Er ist mit einer kleinen Gruppe unterwegs, aber ohne Eltern und Familie. Hamraz kommt aus der afghanischen Region Nangarhar, die zwischen Kabul und der pakistanischen Grenze liegt, Taliban-Gebiet. Er sagt, seine Eltern hätten ihn losgeschickt, weil die Taliban mehrfach versucht hätten, seinen Vater zu töten: »Ich kann auch nicht in die Schule gehen, weil die oft von den Taliban angegriffen wird.«
Hamraz’ Haare und seine Kleidung sind frisch gewaschen. Ein ungewohnter Anblick in dem informellen Belgrader Flüchtlingslager. Die Tage verbringt er bei den Hilfsorganisationen Miksalište und Info Park, die in zwei Gebäuden in Nähe der Lagerhallen untergebracht sind und sich um die Geflüchteten in Belgrad kümmern. Hier bekommt Hamraz Stifte in der Spielecke und malt ein Bild einer Familie mit zwei Erwachsenen und drei Kindern. Es ist seine Familie, er fehlt. Die Helfer und der Übersetzer bringen ihm etwas Englisch bei. Wenn er schon nicht in die Schule gehen kann, soll er wenigstens etwas Nützliches lernen.
Das Flüchtlingszentrum Miksalište lässt Kinder bis zwölf Jahre in den Räumen übernachten. Es ist eine Notlösung, doch Hamraz macht davon keinen Gebrauch. Branislava Đonin, eine Mitarbeiterin von Info Park, hat guten Kontakt zu dem Jungen aufgebaut und wollte ihn überzeugen, in ein Aufnahmezentrum zu gehen, doch das hat nicht funktioniert. »Sein Vater erlaubt ihm das nicht, weil er glaubt, dass ihn das auf seinem Weg aufhalten wird. Der Junge ist davon überzeugt, dass er einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen kann, sobald er es über die ungarische Grenze schafft. Das ist falsch. Wir haben mit dem Vater in Afghanistan gesprochen, aber da ist nichts zu machen.«
Die ungarische Grenze ist nur zwei Autostunden von Belgrad entfernt und doch für viele der Flüchtlinge unerreichbar. Hamraz hat Angst, dass er es nicht über die Grenze schafft und seine ganze Familie enttäuscht. Er lebt seit zwei Monaten in den Ruinen, weil das Wort seines Vaters Gesetz ist. Es zählt für ihn mehr als das Bedürfnis nach einem warmen Schlafplatz, der nicht voll beißenden Rauchs ist. »Wenn die Menschen aus ihren Ländern aufbrechen, dann haben sie schon eine fertige Geschichte im Kopf. Auch wenn die oft nicht stimmt. Viele der Minderjährigen haben sich auf den Weg gemacht, um ihre Eltern zu retten. Das ist das Traurigste an dieser ganzen Geschichte«, so Đonin.

Minderjährige stecken fest

Täglich kommen rund 100 Menschen in Serbien an, davon sind 40 Prozent minderjährig, viele davon unbegleitet. Ungarn lässt aber nur zehn Menschen am Tag durch. Weil die Grenze zwischen Serbien und Ungarn effektiver geschützt ist als die zwischen Bulgarien und Serbien, stauen sich die Geflüchteten in Belgrad. Die NGO »Save the Children« schätzt, dass sich derzeit rund 700 unbegleitete Minderjährige in Serbien aufhalten. 100 bis 200 von ihnen sollen in den Lagerhallen schlafen. Als die Temperaturen in Belgrad bis minus 16 Grad sanken, warnte die NGO, dass die Kinder zu erfrieren drohen. Einige leiden unter Erfrierungen, viele tragen nur Schlappen an den Füßen und haben keine Handschuhe.
Mit der Schließung der Balkanroute hat sich das Schicksal der Flüchtlinge über Nacht verschlechtert. Seither können sie nur noch illegal über die Grenzen. Viele bleiben in den Lagerhallen, weil auch die Schlepper hier verkehren und sie schnell weiter wollen. Die Asyl- und Aufnahmezentren in Serbien sind oftmals weit von Belgrad und den Grenzen entfernt. Viele fürchten, nicht mehr weiter zu kommen, wenn sie sich dort registrieren. Die Schlepper verlangen derzeit 3 000 Euro für den Weg nach Ungarn, mehr Geld als jemals zuvor, und machen ein gutes Geschäft, weil die Menschen in den Ruinen auf sie angewiesen sind. Es gibt für sie keinen anderen Weg, einen Asylantrag in der EU zu stellen.

Der neunjährige Hamraz malt ein Bild einer Familie mit zwei Erwachsenen und drei Kindern. Es ist seine Familie, er fehlt.

Um 13 Uhr bildet sich eine lange Essensschlange vor den Ruinen. Aus einem Transporter heraus verteilt die Gruppe »Hot Food Idomeni« breiigen Eintopf mit Karotten und Bohnen. Dazu erhält jeder drei bis vier Scheiben Weißbrot. »Hot Food Idomeni« hat mit der Verteilung von Essen angefangen, weil der serbische Staat andere Organisationen dazu gedrängt hat, die Hilfe einzustellen, um die Flüchtlinge schneller los zu werden. Freiwillige Helfer glauben, dass der serbische Staat die Situation absichtlich so prekär gestaltet, damit die Flüchtlinge möglichst schnell weitergehen. In der Essensschlange stehen viele Minderjährige und Kinder. An den alten Lagerhallen sind Graffiti: »Please, don’t forget about us« und »Refugees are not terrorists« steht dort. Bei der Essensausgabe läuft das Album »Clandestino« von Manu Chao, was die Stimmung wohl etwas aufhellen soll. Es ist kalt, viele Menschen haben sich warme Decken umgelegt.
Das Essen reicht nicht für alle, einige bereiten sich daher selbst etwas zu. Eine Gruppe steht an einem selbstgemachten Feuer und brät Hähnchenteile in einer Pfanne. Der 20jährige Mirza verfeinert sie mit Pfefferonen. Er sagt, er habe in Afghanistan für eine NGO übersetzt und dann Probleme mit den Taliban bekommen. Sein Ziel sei Schweden. Er weiß, dass es schwierig ist, aber gibt nicht auf: »Natürlich habe ich noch Hoffnung, weiterzukommen. Sonst habe ich doch nichts mehr.« Eigentlich trinke er gerne Tee, aber seit er hier gelandet sei, verzichte er darauf: »An diesem Feuer draußen wird der Tee nicht lecker. Der schmeckt dann einfach nicht richtig.«
In der Gruppe machen sich Gerüchte breit, dass die serbische Regierung genug habe und die Lagerhallen bald räumen will. Das führt zu Unmut. In den Ruinen herrscht großes Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen. Die meisten berichten, dass sie auf dem Weg schon betrogen, ausgeraubt oder geschlagen wurden. Insbesondere die bulgarische Polizei hat einen schlechten Ruf. Einige erzählen, dass sie bereits in Ungarn waren und dann von der dortigen Polizei geschlagen und zurückgeschickt worden seien. Auch die Abschiebung aus Serbien fürchten viele – ein weiterer Grund, unregistriert zu bleiben und die offiziellen Aufnahmezentren zu meiden.

Duschen ohne Dusche. Der 18jährige Sanala wäscht sich bei Minusgraden im Freien, da es im Camp keine Sanitäranlagen gibt

Duschen ohne Dusche. Der 18jährige Sanala wäscht sich bei Minusgraden im Freien, da es im Camp keine Sanitäranlagen gibt

Bild:
Erik Marquardt

Illegale Push-backs

Die Angst vor den sogenannten Push-backs ist nicht unberechtigt. Dem UNHCR zufolge werden Flüchtlinge aus Serbien vermehrt über die Grenze nach Mazedonien und Bulgarien abgeschoben. Diese Praxis ist rechtswidrig, hat sich aber auf der westlichen Balkanroute inzwischen etabliert. Nikola Kovačević vom Belgrader Zentrum für Menschenrechte sagte dem Onlineportal »Middle East Eye«: »Unsere Kollegen vor Ort haben 20 Beschwerden von Flüchtlingen über Massendeportationen erhalten. Wir schätzen, dass seit September 700 bis 1 000 Menschen aus Serbien nach Mazedonien und Bulgarien abgeschoben wurden.« Die mazedonische Young Lawyers Association schätzt die Zahl der Abschiebungen auf 400 bis 600.
»Wir haben Berichte, laut denen uniformierte Männer Flüchtlinge aus dem Bus an die Grenze gebracht haben. Dort wurden ihre Papiere zerrissen und die Menschen bei Temperaturen von minus elf Grad im Wald ausgesetzt«, so Kovačević. Auch Human Rights Watch berichtet von illegalen Push-backs. Demnach sollten an einem Tag 40 Flüchtlinge von der serbisch-ungarischen an die serbisch-mazedonische Grenze gebracht werden. Doch die Menschen wurden dann einfach auf mazedonischem Gebiet rausgeschmissen.
Der Leiter des Asylzentrums Krnjača in Belgrad behauptet, diese Anschuldigungen seien falsch: »Jeder hat das Recht, in Serbien einen Asylantrag zu stellen, und wir behandeln die Menschen gut«, so Rade Ćirić. Er selbst scheint einen eher rauen Umgang mit den 1 130 Flüchtlingen im Asylzentrum zu pflegen. Als eine Frau vor seinem Büro in Badeschlappen steht und nach festem Schuhwerk fragt, schreit er sie laut an und schickt sie wieder weg. Er behauptet, die internationalen Hilfsorganisationen seien schuld an der Misere, weil sie den Flüchtlingen erzählten, sie sollten in den Ruinen der Belgrader Innenstadt schlafen, um die EU »moralisch zu erpressen«. Illegale Push-backs gebe es nicht, sondern es seien die Schlepper, die Menschen wieder zurückbrächten, um sie doppelt abzukassieren. Außerdem gebe es in Serbien genug Platz in den Unterkünften und die Männer seien selbst schuld, wenn sie diese nicht annähmen.
Vieles von dem, was Ćirić sagt, entspricht nicht ganz der Wahrheit. So gibt es in Serbien zwischen 7 500 und 8 000 Flüchtlinge, dem Internetportal Insajder.com zufolge aber nur 6 450 Plätze in Asyl- und Aufnahmezentren. Vor allem in Belgrad mangelt es an Platz. Ein neues Aufnahmelager für 240 Personen wurde am 18. Januar im Belgrader Vorort Obrenovac errichtet, nachdem der Druck auf die serbische Regierung wegen der internationalen Berichterstattung gestiegen war. Es wurden vor allem Kinder aus den Ruinen nach Obrenovac gebracht. Unter vier Augen sagen auch Offizielle aus humanitären Organisationen und staatlichen Stellen, dass der serbische Staat die Situation absichtlich so prekär halte, damit die Menschen nicht zu lange im Land bleiben.
Der neunjährige Hamraz wurde nicht nach Obrenovac gebracht. In der Nacht sind die Feuer in den Lagerhallen das einzige Licht. Manche kochen Tee, andere schlafen, viele husten in diesen verqualmten Hallen. Die Menschen liegen an vielen Stellen dicht an dicht. Hier wird Hamraz noch eine und vielleicht viele weitere Nächte verbringen. Die Flüchtlinge sollen es sich in Serbien nicht zu gemütlich machen und schnell weiterziehen. Hamraz will auch  nicht.