Klassenkampf

Der Schwanz Gottes

Gebannt sitzt der Schüler da und lauscht meinem Vortrag, während er hingebungsvoll Notizen macht und Illustrationen entwirft, die das Gehörte verarbeiten. Es muss wohl am Thema der Stunde liegen, dass ihn ausnahmsweise interessiert, was ich zu sagen habe. Aber was sage ich eigentlich? Ich sage: »Penis. Penis, Penis, Penis, Schwanzschwanz, Penis, Schwanz! Schwanz?« Beziehungsweise sage ich das natürlich nicht, eigentlich erzähle ich ­irgendetwas von einem Gedicht, das jemand zu einer bestimmten Zeit überflüssigerweise und mit dem einzigen Ziel, Schülern auf die Nerven zu gehen, geschrieben hat. Weil aber das Universum in seiner Weisheit unendlich und letztlich gar nicht so schlecht eingerichtet ist, passiert mit meinen Äußerungen, nachdem sie meinen Mund verlassen haben, gar Seltsames, sie wandeln sich und werden zu etwas Neuem, Schönerem, und zu dem Zeitpunkt, zu dem sie auf Ömers Ohren stoßen, geht es in ihnen hauptsächlich um das männliche Geschlechtsorgan sowie irgendwie Sex. Das ist praktisch, weil das zugleich die zwei Dinge sind, die Ömer gerade am meisten interessieren.
Seit kurzem ist er 15 und dementsprechend verwirrt. Der neben Ömer sitzende Yusuf, auch er 15 und also nicht ganz dicht, versucht derweil, die in Ömers Notizblock entstehenden Schwanzillustrationen möglichst schnell und gründlich wieder auszustreichen, er ist momentan der Überzeugung, derlei Gekritzel sei haram. Das glaubt Ömer vermutlich im Grunde auch, ich halte es für absolut möglich, dass er morgens aufsteht und zur Schule geht mit dem Vorsatz, heute nicht wie besessen überall Penisbilder hinzumalen, und abends betrübt zu Bett geht, weil die Bilderflut in seinem Hirn wieder stärker war als er. Jedenfalls saßen die beiden vergangene Woche noch einträchtig nebeneinander und teilten sich, während wir einen Film schauten, eine Jacke, die sie gelegentlich über ihre Köpfe zogen, um diese Orte der Reinheit und Unschuld zu schützen vor den drei Szenen, in denen das Mädchen den Jungen küsste. Und in der Woche davor schrieben sie ebenso einträchtig ein Gedicht, das zwar insofern vorbildlich war, als dass in ihm Metaphern verwendet wurden ohne Zahl, das aber dennoch nicht, wie ursprünglich geplant, vor den Siebtklässlern vorgetragen werden konnte, weil wir uns nicht ganz sicher waren, ob die nicht doch ein paar von den Metaphern verstehen und dann zu heulen anfangen würden, die sind ja noch so klein.
Während also Yusuf und Ömer wild pendeln zwischen dem absoluten Schwanz und der vollkommenen Schwanznegierung, wirft Esma einen langen Blick auf Ömers Zeichnungen und urteilt schließlich: »Das ist wirklich das allerhässlichste Tier.« Und in die darauf entstehende betroffene Stille gut gelaunt: »Aber macht nichts, ist auch von Gott.« Und lächelt leise.