London nach dem jihadistischen Anschlag

Anderthalb Minuten Terror

Der Attentäter von London, Khalid Masood, entwickelte sich vom Kleinkriminellen zum Jihadisten. Ob der »Islamische Staat« in den Angriff verwickelt war, ist derzeit unklar.

Am Morgen des 22. März verließ Khalid Masood das Hotel in Brighton in Süd­england, in dem er eine Nacht verbracht hatte, mietete ein Auto und fuhr nach London. Am Abend zuvor hatte er noch mit dem Hotelpersonal an der Rezeption gescherzt und nach dessen Angaben »lustige Geschichten« über sein Leben erzählt. Von Süden kommend überquerte er die Themse mit dem Auto über die Westminster-Brücke, rechts hinter ihm das London Eye, links vorne das Parlament und der Elizabeth Tower mit Big Ben. Gegen 14.40 Uhr, bevor er auf der anderen Seite ankam, lenkte er sein Auto in die Fußgänger am Rand der Brücke, tötete drei Menschen und verletzte weitere 50, einige von ihnen schwer. Nachdem das Auto einige Meter weiter in die Brückenabgrenzung gekracht war, stieg Masood aus, lief zum Eingang des Parlamentsgebäudes und erstach einen der dort Wache haltenden Polizisten. Bevor er in das Parlamentsgebäude vordringen konnte, wurde er von einem weiteren Polizisten erschossen. 82 Sekunden dauerte die Attacke insgesamt.

Es war der schwerste Terroranschlag in London seit 2005. Damals waren 56 Menschen ums Leben gekommen, als Jihadisten, die sich zu al-Qaida bekannten, in der U-Bahn und einem Bus Bomben zündeten. Im Vergleich dazu ist der jüngste Anschlag weniger gravierend, bestätigt aber die Schwierigkeit, Anschläge mit Fahrzeugen – eine vom »Islamischen Staat« (IS) beworbene Taktik – zu verhindern. Vergleichbar ist die Tat insofern mit den LKW-Anschlägen auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 und auf die Feierlichkeiten am französischen Nationalfeiertag in Nizza im Juli 2016.
Wie im Fall der Anschläge von Nizza und Berlin bekannte sich der IS auch zum Londoner Attentat und bezeichnete Masood als »Soldaten des Islamischen Staats«. Polizei und Sicherheitsbehörden ermitteln, können aber bislang nicht mit Sicherheit sagen, ob Masood ein Einzeltäter war oder ob er im Auftrag des IS handelte. Tatsächlich ist die Beweislage so dünn, dass der Polizei zufolge Masoods Motive womöglich nie aufgeklärt werden können. Mehrere Durchsuchungen und Verhaftungen in den Tagen nach dem Anschlag vor allem in Birmingham ließen zunächst vermuten, dass es sich um eine Gruppe von Terroristen handelt. Aber der Großteil der Verhafteten wurde inzwischen wieder auf freien Fuß gesetzt. Am Montag sagte Neil Basu von der Metropolitan Police, der zugleich als Koordinator für Antiterrorismus fungiert, dem britischen Guardian zufolge über Masood: »Seine Angriffsmethode scheint auf wenig ausgefeilten, einfachen und billigen Techniken zu beruhen, die von anderen Angriffen kopiert wurden, und spiegelt die Rhetorik von Führern des Islamischen Staats in Bezug auf die Methodologie und den Angriff auf Polizei und Zivilisten, aber zum jetzigen Zeitpunkt habe ich keinen Beweis, dass er dies mit anderen diskutierte.«
Die Ähnlichkeit des Vorgehens Masoods mit vergangenen Anschlägen, die der IS für sich reklamiert, wirft allerdings die Frage auf, ob und inwieweit die Terrortruppe in den Anschlag verwickelt war, zumal der IS bereits nach dem Massaker in Paris vom November 2015 Großbritannien explizit als nächstes Terrorziel bezeichnete. Bis vor kurzem zielte der IS vor allem darauf, Rekruten in das von ihm kontrollierte Gebiet nach Syrien zu locken, damit diese dort seinen Kampf unterstützen. Da die Reise nach Syrien schwieriger geworden und der IS militärisch stark unter Druck geraten ist, konzentriert er sich darauf, Anleitung zu Anschlägen in den Herkunftsländern der Rekruten zu geben. Dies kann sowohl direkt als auch indirekt geschehen. Am Beispiel eines vereitelten Anschlags in Hyderabad in Indien wird deutlich, dass sogenannte Cyberplaner mit ihren Rekruten mitunter monatelang in intensivem Kontakt stehen, sie in verschlüsselten Nachrichten anleiten und ermuntern und sogar bei der Beschaffung von Waffen helfen. In diesen Fällen der Internet-Rekrutierung treffen Angeworbene ihre sogenannten Handler allerdings nie persönlich. So konnten die festgenommen Terrorverdächtigen in Hyderabad ihre Handler nicht identifizieren. Nach eigenen Angaben waren sie ursprünglich über IS-Propaganda im Internet radikalisiert worden.

Ähnlich war es mit den beiden Terroranschlägen in Deutschland im Juli 2016. Sowohl Riaz Khan Ahmadzai, der in einem Zug nahe Würzburg mit einer Axt Reisende angriff, als auch Mohammed Daleel, der sich bei einem Musikfestival nahe Ansbach in die Luft sprengte, standen bis Minuten vor den Anschlägen digital in Kontakt mit dem IS.
Masood passt zunächst nicht in das übliche Bild der IS-Rekruten. Mit 52 Jahren ist er viel älter als der durchschnittliche Attentäter. Erste Ermittlungen gaben keine Hinweise darauf, dass er mit dem IS in direktem Kontakt stand. Schaut man sich allerdings die IS-Taktiken genauer an, spricht vieles dafür, dass der Anschlag zumindest von islamistischer Ideologie inspiriert, möglicherweise auch von radikalen Islamisten konkret beeinflusst wurde.

Auf einem Poster wirbt der »Islamische Staat«: »Manchmal schaffen die Leute mit der schlimmsten Vergangenheit die beste Zukunft.«

Einen Hinweis bieten die Lebensverhältnisse Masoods. Er wuchs als uneheliches, schwarzes Kind einer weißen Teenagerin im ländlichen Kent auf. Gebürtig als Adrian Elms, änderte er seinen Nachnamen zu Ajao, nachdem seine Mutter seinen Stiefvater Philip Ajao kennengelernt hatte, zu diesem in das gutbürgerliche Turnbridge Wells zog und zwei weitere Kinder bekam. Die Familie lebte in einem angesehenen Viertel und wurde von Nachbarn als »normal und freundlich« bezeichnet. Von seinen Mitschülern gemocht und »gut in Chemie«, verließ Masood die Schule allerdings bereits mit 16. Mit 18 dealte er mit Drogen und hatte bereits eine Vorstrafe wegen Sachbeschädigung. Nachdem er mit 28 geheiratet hatte, lebte er eine Zeitlang zurückgezogen auf dem Land, wurde aber bald sozial auffällig. Nicht nur verließ ihn seine Frau nach drei Monaten, da er ihr gegenüber gewalttätig war, er wurde auch wegen schwerer Körperverletzung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Bei einer Auseinandersetzung in einer lokalen Kneipe hatte Masood einen Besucher mit einem Messer angegriffen und ihm eine schwere Gesichtswunde zugefügt. Ein Jahr nach seiner Entlassung wurde er zu einer weiteren Gefängnisstrafe verurteilt, erneut wegen Körperverletzung mit einem Messer. In dieser Zeit seiner Inhaftierung trat er zum Islam über. 2005 änderte er seinen Namen von Adrian Ajao zu Khalid Masood.
Ob er im Gefängnis jihadistische Ideologie übernahm, ist unklar. Studien zeigen, dass Jihadisten in europäischen Ländern mit Vorliebe ehemalige Straftäter rekrutieren. Während sie aus einer kriminellen Vergangenheit übertragbare Kompetenzen nutzen können – etwa bei der Beschaffung von Waffen –, bietet die islamistische Welterklärung eine attraktive Identität für Straftäter. Der IS wirbt auf einem Poster: »Manchmal schaffen die Leute mit der schlimmsten Vergangenheit die beste Zukunft.«
Masoods weiteres Leben war stark von seiner neu gewonnenen Religion geprägt. Er heiratete eine junge Muslimin und machte eine Ausbildung zum Lehrer für Englisch als Zweitsprache. Mit dieser Qualifikation arbeitete er einige Jahre in Saudi-Arabien, dem Radikalisierungsort einer Vielzahl von Islamisten, bevor er 2009 nach Großbritannien zurückkehrte. Dort lebte er mit einer jungen Frau aus Gambia in Luton, einer Stadt, die zu dieser Zeit von sozialen Spannungen zwischen islamistischen Gruppen wie der Muslimbruderschaft und der rechtsextremen English Defense League (EDL) gekennzeichnet war. Zu diesem Zeitpunkt wurde der britische Inlandsgeheimdienst MI5 auf ihn aufmerksam, kategorisierte ihn aber maximal als Randfigur des radikalen Islamismus. Von Luton zog Masood kurzzeitig nach Ost-London; seine letzte Wohnadresse war in Birmingham, der Stadt mit der höchsten Anzahl an verurteilten islamistischen Terroristen im Land, ein beliebter Rekrutierungsort für radikale Islamisten weltweit sowie das Zuhause von Finanziers des Anschlags in New York am 11. September 2001. In Birminghamer Moscheen predigen radikale Kleriker, in muslimischen Schulen betreiben sie radikale Indoktrination.

In Masoods Fall ist sowohl eine vereinzelte, über das Internet inspirierte Radikalisierung möglich als auch eine konkrete Anleitung des Anschlags durch Handler. Minuten vor dem Anschlag soll Masood Medienberichten zufolge das verschlüsselte Whatsapp benutzt haben – möglicherweise ein Indiz für einen von Cyberplanern dirigierten Anschlag. Wegen der Verschlüsselung wird es einige Zeit dauern, bis die Polizei feststellen kann, ob und gegebenenfalls mit wem er im Kontakt stand und was die Kommunikation beinhaltete.