Arca entledigt seine Musik der digitalen Härte

Er ist nur eine Kiste

Verstörung und Verführung: Auf seinem dritten Album lässt der venezolanische Musiker Arca die digitale Härte weitestgehend hinter sich.

Ziemlich viele Gargoyles. Und Tote, sechs Fuß unter der Erde. Zwischen den Grabsteinen, da raschelt es im Dickicht: schwule Männer auf der Suche nach Sex. Der Abney Park Cemetery in London sei ein passender Ort für seine Spaziergänge gewesen, sagt Arca: »cruising around the dead«. Eine geradezu poetische Atmosphäre erlebe man dort – die sich nach Angabe des 27jährigen auch auf seinem neuen Album niedergeschlagen hat.

Madonna und David Bowie hätte man das nicht eben subtile Spiel mit Identität ohne Murren durchgehen lassen. In Arcas Inszenierung ist an die Stelle um sich schlagender Härte queere Menschlichkeit getreten.

Arca heißt mit bürgerlichem Namen Alejandro Ghersi, verließ Caracas im Alter von 17 Jahren Richtung New York, wurde Toningenieur – und binnen kürzester Zeit ein weltberühmter Künstler. Björk und der durchgeknallte Kanye West heuerten ihn an, der R & B-Elektrokünstlerin FKA Twigs komponierte er zahlreiche Songs. Und seine eigenen Alben? Nicht eben massentauglich. Ultra­schrill, kreischend und wahnsinnig anstrengend.

»Xen« erschien 2014, »Mutant« folgte 2015. Wie viele dieser Tracks, die mehrheitlich aus lose miteinander verbundenen musikalischen Ereignissen zusammengepuzzelt waren, konnte man am Stück hören? Wie viel dieser schneidenden digitalen Sounds ertragen, die zwar durchaus Erfindungsreichtum widerspiegelten, aber vor allem eines auszudrücken erlaubten: Härte, Härte und nochmals Härte. Alles strebte auseinander. Struktur? Ein rhythmisches Raster ließ sich in dieser überfordernden Musik nur unter Mühen finden – um schließlich festzustellen, dass man auf die falsche Fährte gelockt worden war. Längst schon hatte dieser Arca ­einen weiteren Haken geschlagen, sein hyperaktives Gebretter in andere Bahnen gedrängt. Sounds in noch kleinere Partikel zerlegt, bis einem alles völlig entmenschlicht vorkam. Es gehe ihm um Destabilisierung, sagte Arca vor etwa zwei Jahren, als er dem Fotografen Wolfgang Tillmans ein Interview gab. Heraus kam trotzdem eine Musik, die wegen ihrer Unerbittlichkeit und Schärfe auch als Muskelspiel gedeutet werden konnte. Eine Krassheit, die sich behauptete und plattwalzte.

Umso erstaunlicher, was auf Arcas drittem, nach ihm selbst benanntem Album geschieht. Es beginnt zaghaft, mit einem Summen, einer Kopfstimme, die, man hätte es nicht für möglich gehalten, aus dem Mund des Künstlers höchstpersönlich kommt. Arca singt auf seinem dritten Album. Noch verrückter: Der zweite Song »Anoche« wirkt mit seiner ­melodiösen Getragenheit, die nur selten durch Störgeräusche unter­brochen wird, geradezu wie ein Schlaflied. Mögen knatternde Bässe folgen und die Stimme den Hörer bald wieder verlassen, mit der Unerbittlichkeit seiner früheren Alben hat »Arca« nur noch wenig zu tun.

Von Versöhnlichkeit ist trotzdem keine Spur. Dafür sorgt nicht zuletzt die Bildwelt, die Arca seit Beginn seiner Karriere mitliefert. Für die medialen Rezeption des Künstlers ist sie prägend. Geschlechtlich undefinierbare Figuren, von grotesken Plastikwucherungen verunstaltete Mutanten – bis vor kurzem wirkten diese Videos ein bisschen wie Verkehrsunfälle: So verstörend sie auch sein mochten, man konnte seine Augen kaum abwenden.

In seinen jüngsten Videos setzt Arca sich deutlicher selbst in Szene. Man sieht ihn in »Desafío« in einer ledernen Zwangsjacke durch den Wald kriechen; im Video zu »Anoche« verteilt er, in wenig mehr als eine Lederkorsage und Highheels gekleidet, Gutenachtküsse an entblößte Männer und Frauen. Fleischwunden kommen ins Bild, jeder ist geschunden. In »Reverie« trägt er Prothesen an den Beinen, mechanische Stelzen, die an die Hinterläufe eines Stiers erinnern. Dazu: ein zerschlissener ­Bolero. Erst kommt ein phallisches Horn ins Bild, dann ein blutverschmierter Hintern. Mehr Bedeutungshuberei lässt sich in einem fünfminütigen Clip beim besten Willen nicht unterbringen.

Für seine Inszenierung arbeitet Arca mit dem in Japan geborenen und in Kanada aufgewachsenen Künstler Jesse Kanda zusammen. Matthew Barneys geschlechtslose Fabelwesen kommen in den Sinn, ebenso wird man an das Duo Aphex Twin und Chris Cunningham erinnert. Arca nutzt die Bilder auch live, sie verdoppeln das Maskenspiel, das sich auf der Bühne zuträgt.

Ist das nicht alles schrecklich prätentiös? Der Weg eines Künstlers, der die Abstraktheit hinter sich gelassen hat und nun in all seiner nackten Verletzlichkeit ins Licht getreten ist, um sein Selbst auszustellen? Muss nicht gleichsam von einem coming-out ­gesprochen werden? Abgesehen davon, dass das anmaßend wäre, Madonna und David Bowie hätte man das nicht eben subtile Spiel mit Identität ohne Murren durchgehen lassen. In Arcas Inszenierung ist an die Stelle um sich schlagender Härte queere Menschlichkeit getreten.

In »Sin Rumbo« klingt Arca wie ein gregorianischer Mönch, in »Coraje« lässt er seine frühen musikalischen Gehversuche aufblitzen. Damals, in Venezuela, hatte Arca zunächst unter dem Namen Nuuro verträumten Synthpop gemacht. Sein drittes Album ist auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Arca singt auf Spanisch, der Sprache, in der er früher einstecken musste – dafür etwa, dass er sich »wie ein Mädchen verhielt«.

Mag er in den meisten seiner jüngsten Songs auch mehr von seinem ­Gespür für große Melodien preisgeben, verstörende Momente gibt es noch immer. So sind in »Whip« knallende Peitschenhiebe zu hören. Fragt sich, wer hier geschlagen wird. Und von wem. Die letzten Songs des Albums könnten glatt als gewöhnlich arrangierte Popsongs durchgehen. Zu den Fliegersirenen in »Desafío« könnte man sogar das Tanzbein schwingen.

»Wer kann ich sein?« – Das fragte Judith Butler einst. Eigentlich alles, zumindest in den 44 Minuten eines so gelungenen experimentellen Pop­albums wie diesem. Kürzlich erklärte Arca, was sein Künstlernamen bedeutet: Es ist ein altes spanisches Wort für Kiste. Arca ist ein Behälter, der sich nach Belieben füllen lässt. Auf »Arca« befindet sich darin ein ebenso anziehender wie verstörender Trip ins Ungewisse.

Arca: s/t (XL Recordings)