Der Hungerstreik palästinensischer Gefangener dient vor allem Marwan Barghoutis Machtstreben

Hungern nach Macht

Offiziell geht es um Haftbedingungen in israelischen Gefängnissen. Doch bei dem von Marwan Barghouti initiierten Hungerstreik palästinensischer Gefangener dreht sich alles auch um die Frage: Wer folgt auf Mahmoud Abbas?

Die Inszenierung war minutiös geplant und der Protest alles andere als spontan bei dem Hungerstreik, der für den 17. April ausgerufen wurde und bereits am Abend zuvor begann. Nach palästinensischen Angaben beteiligen sich seither über 2 000 der rund 6 500 palästinensischen Gefangenen in acht israelischen Haftanstalten an dieser unbefristeten Protestaktion. Die israelische Gefängnisverwaltung spricht dagegen von nur 1 100 Personen. Die Hungerstreikenden fordern mehr Besuchsmöglichkeiten für Angehörige, bessere medizinische Versorgung, Telefone in jedem Zellenblock sowie ein Ende der Inhaftierung ohne vorheriges Gerichtsurteil und in Einzelhaft. Kurzum, alle Verschärfungen der Haftbedingungen, die nach der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Shalit 2006 und nach der Ermordung von drei jüdischen Teenagern 2014 eingeführt wurden, sollen wieder rückgängig gemacht werden. Auch das Datum war mit Bedacht gewählt: Der 17. April  ist nach offizieller palästinensischer Lesart der »Tag der Gefangenen«. Zudem jährt sich 2017 der Ausbruch des Sechstagekrieges zum 50. Mal, so dass reichlich internationale mediale Aufmerksamkeit garantiert ist.

Marwan Barghouti ist zwar bereits im Zentralkomitee, dem bedeutendsten Gremium der al-Fatah. Aber er wartet schon recht lange darauf, von Abbas einen wirklich wichtigen Posten zu bekommen.

Für die eigentliche Sensation dabei sorgte der derzeit wohl prominenteste palästinensische Häftling in israelischem Gewahrsam: Marwan Bar­ghouti. Er ist ehemaliger Anführer der Tanzim-Miliz, auf deren Konto zahlreiche Selbstmordanschläge auf die israelische Zivilbevölkerung während der Zweiten Intifada gehen. Bereits am 16. April war in der New York Times ein von Barghouti verfasster Artikel erschienen, in dem er die Motive der inhaftierten Palästinenser skizzierte: »Ein Hungerstreik ist die friedlichste Form des Widerstandes überhaupt. Sie verursacht allein den Teilnehmenden und ihren Angehörigen Leid. Zugleich kommt damit die Hoffnung zum Ausdruck, dass ihre leeren Mägen und ihre Opferbereitschaft es schaffen, die Botschaft aus den dunklen Gefängniszellen hinaus in die Welt zu tragen.« Zum Skandal wurde die Tatsache, dass Barghouti den Lesern der Zeitung als »palästinensischer Politiker und Parlamentarier« präsentiert wurde. Kein Wort darüber, dass das Fatah-Mitglied 2004 für seine Mitwirkung an der Planung von Terroranschlägen zu fünfmal lebenslänglich plus 40 Jahren verurteilt wurde.
»Barghouti einen Politiker und Parlamentarier zu nennen, ist ungefähr das Gleiche, als spräche man von Assad als Kinderarzt«, sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu mit Verweis auf die medizinische Ausbildung des syrischen Diktators, wobei er ihn fälschlicherweise als Kinder- und nicht als Augenarzt bezeichnete. Bei den palästinensischen Gefangenen handele es sich »um Mörder und Terroristen«, fügte er an. Liz Spayd, Mitherausgeberin der New York Times, sprach von einem Fehler – wohl nicht der erste dieser Art auf der Meinungsseite, wie sie zugab. Ein redaktioneller Hinweis auf das gegen Barghouti ergangenen Urteil wurde der Online-Version angefügt.

Zweifelsohne ist Marwan Barghouti damit ein Mediencoup geglückt. Plötzlich ist er wieder in aller Munde. Auch einige israelische Politiker hatten daran Anteil. So twitterte unmittelbar nach Beginn des Hungerstreiks der Verkehrsminister Yisrael Katz: »Wenn ein verabscheuungswürdiger Mörder wie Barghouti im Gefängnis für bessere Haftbedingungen protestieren kann, während die Angehörigen seiner Opfer noch immer trauern, dann kann es nur eine Lösung geben – die Todesstrafe für Terroristen.« Das sorgt für reichlich Diskussionen und schafft in den besetzten Gebieten viel street credibility. Zugleich verweist Barghoutis plötzlicher Aktionismus auf etwas ganz anderes, wie Avi Issacharoff, ein ausgewiesener Kenner der palästinensischen Politik, in der Internet Zeitung Times of Israel schreibt: »Der Streik ist ein politischer Schritt, sorgsam geplant und orchestriert von Marwan Barghouti, genau dem Fatah-Politiker, der nun fest entschlossen scheint, allen zu zeigen, zu was er selbst aus dem Gefängnis heraus in der Lage ist.«

Nie zuvor hatte sich Barghouti an ähnlichen Aktionen beteiligt, so auch nicht am letzten Hungerstreik 2013, der nur einen Tag andauerte. Deshalb dürfte es um etwas viel wichtigeres gehen als Telefone und bessere medizinische Versorgung in den israelischen Gefängnissen, nämlich die Frage: Wer tritt eines nicht allzu fernen Tages die Nachfolge des mittlerweile 82 Jahre alten Mahmoud Abbas an der Spitze der Autonomiebehörde an? Schließlich gibt es zahlreiche Kandidaten, die bereits um diese Position rangeln. Barghouti ist zwar bereits im Zentralkomitee, dem bedeutendsten Gremium der al-Fatah. Aber er wartet schon recht lange darauf, von Abbas einen wirklich wichtigen Posten zu bekommen, beispielsweise den des Stellvertreters des Palästinenserpräsidenten, was einer Designierung als Nachfolger gleichkäme. Bis dato gibt es einen solchen noch nicht.

Nachdem der ambitionierte Mohammed Dahlan, lange Jahre Yassir Arafats Mann fürs Grobe im Gaza-Streifen, als Konkurrent in der Nachfolge ausgeschaltet und vor einiger Zeit recht wörtlich in die Wüste geschickt worden war, sind Jibril Rajoub, der ehemalige Sicherheitschef im Westjordanland, und Mahmoud al-Aloul, ehemals Gouverneur von Nablus, in der Gunst des greisen Mahmoud Abbas an Barghouti vorbeigezogen. »Der ungewöhnlich dramatisch inszenierte Hungerstreik katapultierte Barghouti also zurück in die vorderste Linie der Auseinandersetzungen innerhalb von al-Fatah«, so Issacharoff. »Natürlich würde keiner seiner Vertrauten zugeben, dass es sich bei all dem vor allem um ein politisches Manöver handelt.«

Der Leitartikel in der New York Times spielt dabei ebenfalls eine wichtige Rolle – schließlich will Barghouti sich mit seinen harmlos klingenden Forderungen nach einer Verbesserung der Haftbedingungen auch international als moderate Stimme und künftiger Dialogpartner präsentieren.
Eine Schlüsselrolle kommt dem Verweis darauf zu, dass eine Kampagne für seine Freilassung 2013 in der ehemaligen Gefängniszelle Nelson Mandelas auf Robben Island ihren Anfang nahm. Auf diese Weise versucht Barghouti, Israel analog zu Südafrika als brutales und koloniales Apartheidsregime zu delegitimieren und sich selbst als großen Versöhner zu inszenieren – in der Hoffnung, dass seine Verantwortung für den Tod zahlreicher israelischer Zivilisten irgendwann einmal niemanden mehr interessiert. Der derzeitige Hungerstreik ist für seine weitere politische Zukunft also entscheidend: Scheitert er damit, dann schwächt ihn das nachhaltig. Kommt er aber mit nur einem Teil seiner Forderungen durch und kann Israel Konzessionen abringen, so geht er gestärkt in den Nachfolgekampf um den Posten des Palästinenserpräsidenten.