Private Seenotrettung im Mittelmeer ist von der EU nicht gerne gesehen

Tod im Mittelmeer

Schiffe von NGOs nehmen mittlerweile mindestens ein Drittel der auf dem Mittelmeer in Seenot geratenen Flüchtlinge auf. Doch solche private Initiative wird von der EU nicht gerne gesehen.

Mitte April war Ruben Neugebauer wieder in Malta. Der Fotojournalist ist Pressesprecher und Pilot der ersten privaten Seenotrettungsorganisation Sea-Watch, die sich 2015 gegründet hat. Alle zwei Wochen wechselt das Team, um das Erlebte bewältigen zu können. Während des Telefongesprächs mit der Jungle World sitzt Neugebauer auf der »Sea-Watch 1«. Der umgebaute Fischkutter wird in Malta in der Werft repariert, während die 16köpfige Besatzung der »Sea-Watch 2« vor der libyschen Küste im Einsatz ist. In diesem Jahr retteten Sea-Watch und andere NGOs bereits über 3 000 Menschen – mindestens ein Drittel, wahrscheinlich eher 40 Prozent aller Flüchtlinge in Seenot werden mittlerweile von Schiffen privater Initiativen an Bord genommen.

»Wer wirklich glaubt, dass unser 33 Meter langer, alter Kutter ein Fluchtimpuls wäre, der sollte sich dringend mit globalen Flucht-zusammenhängen auseinander­setzen.«  Ruben Neugebauer, Sea-Watch

Deren Teams sind am Limit. Am Osterwochenende kamen 7 000 Flüchtlinge ins Einsatzgebiet, etwa 3 000 von ihnen waren nach Angaben der NGO »Jugend rettet« auf hoher See in einer lebensbedrohlichen Lage. Alle beteiligten zivilen Rettungsorganisationen überschritten ihre Aufnahmekapazitäten, mindestens sieben Flüchtlinge konnten nicht gerettet werden. Der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge starben in den ersten drei Monaten dieses Jahres über 650 Menschen im Mittelmeer. »Deutlich mehr als im gleichen Zeitraum im Vorjahr«, betont Neugebauer.

200 Flüchtlinge sind infolge einer Bootskatastrophe Mitte März ertrunken, die sich ereignete, als keine zivilen Seenotrettungsorganisationen an Ort und Stelle waren. »Unterlassene Hilfeleistung der EU« – so das Fazit von Sea-Watch: »Wir prüfen derzeit rechtliche Schritte gegen Verantwortliche wie Frontex-Chef Fabrice Leggeri, der für das massenhafte Sterben zur Verantwortung gezogen werden sollte.« Die staatlichen Stellen hätten ausreichende Kapazitäten, nutzten diese aber nur eingeschränkt. »Wenn zu viele Rettungskräfte vor Ort sind, geht das Konzept des Sterbenlassens zur Abschreckung nicht auf.«

In einem Interview mit der Welt vom 27. Februar kritisierte Leggeri die zivile Seenotrettung, die einen Pull-Faktor für Flüchtlinge darstelle. Bereits Ende 2016 hatte er zudem den Vorwurf erhoben, dass die NGOs mit Schleppern kooperierten – Beweise legte er nicht vor. »Wer wirklich glaubt, dass unser 33 Meter langer, alter Kutter ein Fluchtimpuls wäre, der sollte sich dringend mit globalen Fluchtzusammenhängen auseinandersetzen«, sagt Neugebauer. Dass Abschreckung nicht funktioniert, belegt eine im März erschienene Studie der Oxford University, »Border Deaths in the Mediterranean«. Statistiken für die Jahre 2013 bis 2016 zeigen, dass Seenotrettungsmaßnamen die Mortalität reduzieren, sich aber nicht auf die Anzahl der Bootsflüchtlinge auswirken. Die meisten Flüchtenden machten sich im Einsatzzeitraum der am wenigsten zur Seenotrettung ausgerüsteten Frontex-Mission Triton I auf den Weg.

Etwa 150 Seemeilen müssen die Menschen auf ihren meist hochseeuntauglichen und überfüllten Gummibooten überwinden, wenn sie von Libyen in Richtung Malta aufbrechen. Seit im März 2016 die Balkan-Route geschlossen wurde und das Abkommen der EU mit der Türkei in Kraft trat, bleibt den meisten nichts anderes übrig. »Letztes Jahr sind mehr als 5 000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Würdes man sie nebeneinanderlegen, wäre das eine Strecke von 2,5 Kilometern. Man würde also fast eine Stunde an den Toten entlanglaufen«, so Lion Kircheis von Sea-Watch.

»Heute sind wir von Malta aus mit unserem Flugzeug über das komplette Einsatzgebiet patrouilliert, um Boote in Seenot zu sichten«, erzählt Neugebauer von den Aufklärungsflügen der Humanitarian Pilots Initiative. »Wir haben dort nur zivile Rettungsschiffe gesehen. Staatliche Kräfte retten derzeit nur, wenn sie müssen, daher ist es wichtig, dass wir auch als Beobachter aktiv sind.« Bereits im Sommer 2016 setzte Sea-Watch ein Flugzeug von Tunesien aus ein, was Neugebauer zufolge nach nur drei Tagen aus »offensichtlich politischen Gründen« von den tunesischen Behörden verboten worden sei.

Es sei zudem mehrfach vorgekommen, sagt Neugebauer, dass Einsätze ziviler Seenotrettungsorganisationen von der libyschen Küstenwache behindert wurden, so auch am 21. Oktober 2016. Während Sea-Watch versucht habe, 150 Flüchtlinge in einem überfüllten Schlauchboot zu retten, sei das Schiff von der Küstenwache unrechtmäßig in internationalen Gewässern abgedrängt worden. Zudem habe »ein Crew-Mitglied der libyschen Küstenwache mit einem Stock oder einem Stück Kabel auf die Flüchtenden eingeschlagen«, so Neugebauer. Das sei kein Einzelfall: »Körperliche Misshandlungen in Notsituationen sind an der Tagesordnung.« Getroffen vom scharfkantigen Patrouillenboot der Küstenwache sei der Schlauch des Gummiboots geplatzt, etwa 30 Menschen seien ertrunken. Sea-Watch erstattete daraufhin Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Hamburg. Das Verfahren wurde eingestellt, weil man die Täter nicht ermitteln könne. Dagegen legte Sea-Watch kürzlich Widerspruch ein.

Es ist nicht auszuschließen, dass an diesem Vorfall – der von der libyschen Marine bestritten wird – von der EU ausgebildete Marineoffiziere beteiligt waren. Seit Sommer 2016 unterstützt die EU die libysche Küstenwache durch Ausbildung und Ausrüstung. Zudem werden in rechtlich fragwürdigen Push-backs Flüchtende nach Libyen zurückgebracht. »Man hört auch oft, dass die Küstenwache teilweise Boote abfängt, um Schmiergeld von den Schleppern zu bekommen, damit sie die Boote durchlässt«, so Neugebauer. Dennoch will die EU die Zusammenarbeit mit der sogenannten Einheitsregierung unter Fayez Sarraj in dem Bürgerkriegsland vertiefen, dies wurde auf dem EU-Malta Gipfel am 3. Februar beschlossen.

Soll mit Libyen ein Vertrag nach dem Vorbild des Abkommens mit der Türkei geschlossen werden? Am 12. April hat der EU-Treuhandfonds für Afrika auf Initiative der Europäischen Kommission ein Programm in der Höhe von 90 Millionen Euro für »besseren Schutz von Migranten und die Steuerung der Migrationsströme in Libyen« beschlossen. Amnesty International zufolge werden Flüchtlinge in libyschen Internierungszentren, die von Regierungseinheiten und diversen Milizen unterhalten werden, misshandelt, gefoltert und zur Arbeit gezwungen; es bleibt unklar, wie die EU hier »sichere Räume« schaffen will. Dass die »Entwicklung lokaler Gemeinschaften« zur »Stärkung ihrer Resilienz als Aufnahmegemeinschaften« gefördert werden soll, ist ein Indiz dafür, dass weitere Push-backs geplant sind.
Besser noch ist es aus Sicht der EU, wenn die Flüchtlinge Libyen gar nicht erst erreichen. Der im November 2015 gegründete Treuhandfonds stellt 2,5 Milliarden Euro für 26 afrikanische Länder bereit und soll zu einem »effizienteren Management der Migrationsströme« beitragen, also afrikanische Staaten dazu bringen, Flüchtlinge an der Ausreise zu hindern.
Auch die Reise durch die Sahara ist gefährlich. Am 11. April veröffentlichte die IOM einen Bericht über den Sklavenhandel in Niger und im Süden Libyens. Hunderte werden demnach auf Sklavenmärkten verkauft, eingesperrt, gefoltert oder sexuell missbraucht. Giuseppe Loprete, der Leiter der IOM Niger, meint auf Anfrage Jungle World, dass der Norden Libyens weniger gefährlich sei. Die Frage ist dennoch, wie die EU die humanitären Verpflichtungen ihrer »Migrationspartnerschaften« erfüllen will – und ob sie das überhaupt will. »Der grundlegende Fehler«, sagt Neugebauer, »ist, dass man glaubt, man könne Migration verhindern. Das hat noch nie funktioniert.«