Französische Rechtsextreme sollen in Lille einen Antifaschisten ermordet haben

Fünf Leichen, vier Unfälle

Die französische Polizei hielt es zunächst für Selbstmord. Doch nun stehen drei Rechtsextreme im Verdacht, einen Antifaschisten in Lille getötet zu haben. Die Zahl ihrer Opfer könnte noch höher sein.

Es ist eine Geschichte, bei der es um Brutalität geht, um Sadisten und Folterer sowie organisierte Rechtsextreme als Hintermänner. Sie macht zudem deutlich, dass die gegenseitigen demons­trativen Abgrenzungen rechtsextremer Gruppen nur Makulatur sind.

Ende vergangener Woche ging die Meldung, mit einer guten Woche Verspätung aus Frankreich kommend, durch deutschsprachige Medien: Drei gewalttätige Rechtsextreme waren Ende April im nordfranzösischen Lille festgenommen worden, die Behörden hatten ein Strafverfahren wegen gemeinschaftlich begangener Körperverletzung mit Todesfolge gegen sie eröffnet. Darüber hatte die Regionalzeitung La Voix du Nord erstmals am 3. Mai berichtet. Den Männern wird vorgeworfen, in der Nacht vom 11. zum 12. November 2011 an einem Angriff auf den Antifaschisten Hervé Rybarczyk, bekannt als Gitarrist der Punkrockband Ashtones, beteiligt gewesen zu sein.

Die Leiche des Mannes war damals im nordfranzösischen Deûle-Kanal gefunden worden. Die Ermittlungsbehörden waren zunächst von einem Selbstmord ausgegangen. Diese Einschätzung war schon deshalb zweifelhaft, weil zwischen Oktober 2010 und September 2011 bereits vier andere junge Männer im Alter zwischen 19 und 33 Jahren tot aus dem Kanal geborgen worden waren. Mehrere Opfer waren entweder als Homosexuelle bekannt oder hatten kurz vor ihrem Verschwinden als Homosexuellentreffpunkte bekannte Orte wie die Bar L’Esplanade in Lille verlassen. Die Staatsanwaltschaft hatte zwar Ermittlungen eingeleitet, doch die Polizei fand keine Hinweise auf Fremdverschulden, sodass die Todesfälle als Unfälle eingestuft wurden. Ende März fand dann im nordfranzösischen Amiens der Prozess gegen 18 Mitglieder des »White Wolf Klan« (WWK) statt. Die Gruppe war vor allem zwischen 2012 und 2014 durch brutale Gewalttaten aufgefallen. 35 Straftaten wurden den Angeklagten vorgeworfen. Ihr Anführer Jérémy Mourain wurde zu neun Jahren Haft verurteilt. Er hatte 2012 unter anderem Mitglieder einer rivalisierenden Rockergang attackiert. Eines seiner Opfer wurde mit Tritten, Motorradketten und einem Messer gefoltert.

Mitangeklagt als mutmaßlicher Hintermann war Serge Ayoub. Mourain war Mitglied in der von Ayoub geleiteten rechtsextremen Gruppe »Troisième Voie« (Dritter Weg) und mit deren regionalem Aufbau in der Picardie betraut. Äußerungen Ayoubs waren dahingehend interpretiert worden, er habe seine Anhänger auf die rivalisierende Gruppe gehetzt. Er wurde jedoch freigesprochen. Die übrigen 17 Angeklagten wurden zu Haftstrafen zwischen zwei Monaten und fünf Jahren verurteilt.
Während des Prozesses sprachen einige Angeklagte sehr detailreich über Mourain, was an inoffiziellen Vereinbarungen zur Strafmilderung gelegen haben könnte. Unter anderem sagten sie aus, Mourain habe in der Untersuchungshaft von einem Tötungsdelikt gesprochen, das er in Lille begangen habe. Zudem soll er seiner Hoffnung Ausdruck verliehen haben, dass die Richter »ihre Nase nicht zu sehr in meine Zeit in Lille stecken«.

Trotz der Aussagen wurden nur die Ermittlungen zum Todesfall Hervé Rybarczyk erneut aufgenommen. Zu den in diesem Zusammenhang festgenommenen Männern gehört Yohan Mutte, ein führendes Mitglied der Gruppen »Jeunesses nationalistes révolutionnaires« (Revolutionäre nationalistische Jugend, JNR) und »Troisième Voie«. Er hatte dort für die Aufnahme Jérémy Mourains gesorgt. Beide Organisationen wurden 2013 verboten, nachdem deren Mitglied Esteban Morillo den jungen Antifaschisten Clément Méric totgeschlagen hatte. Viele französische Medien berichteten im Zuge der Festnahmen Ende April von Personen aus dem »identitären Milieu in Lille«. Die Zeit tat dies kürzlich ebenso, was die österreichische Identitäre Bewegung (IB) in der vergangenen Woche veranlasste, Strafanzeige gegen die Zeitung zu stellen. Diese habe die Meldung von einer polnischen Antifa-Seite übernommen, die drei Festgenommenen gehörten nicht der IB an, so die österreichischen Rechtsextremen.

Die Aussagen der IB entsprechen allerdings nicht der Wahrheit. »In französischen Zeitungen befindet sich keine solche absurde Behauptung«, schreibt die IB. Tatsächlich haben zahlreiche französische Medien schon Anfang Mai einen Zusammenhang zu den Identi­tären hergestellt.

Es ist zwar eine starke Vereinfachung, die Tatverdächtigen den Identitären zuzurechnen, da sie vorwiegend den mittlerweile verbotenen und offiziell aufgelösten Gruppen »Troisième Voie« und JNR angehörten. Deren Treffpunkt in Lille war jedoch jahrelang das Lokal der Identitären, das sogenannte Flämische Haus. Seit vorigem Herbst befindet sich dort die Bar La Citadelle. Der örtliche Anführer der »Génération identitaire«, der Jugendorganisation der Identitären, der 33jährige Aurélin Verhassel, ist Betreiber der Bar. Seine Verbindung zu Mourain und Mutte ist seit Jahren bekannt. Sie arbeiteten in einer gemeinsamen Organisation unter dem Namen »Front populaire solidariste« (Solidarische Volksfront) eng zusammen.
Im selben Umfeld wie Verhassel, Mourain und Mutte bewegte sich Antoine Denevi, der frühere Anführer von »Troisième Voie« in Nordfrankreich. Der 29jährige gehörte einem Bericht der Internetzeitung Mediapart vom Mai 2016 zufolge auch zu einem Waffenhändlerring, der Armeewaffen aus der Slowakei in Frankreich in Umlauf brachte. An der Spitze der Organisation stand demnach der rechtsextreme ehemalige Berufssoldat Claude Hermant, Gründer des »Flämischen Hauses« und früher Sprecher des »Front populaire solidariste«.

Hermant wird unter anderem verdächtigt, den jihadistischen Attentätern Chérif und Saïd Kouachi sowie Amedy Coulibaly, die im Januar 2015 die Morde in der Redaktion von Charlie Hebdo und in einem jüdischen Supermarkt verübten, indirekt Schusswaffen geliefert zu haben. Dazu wurde er im Dezember 2015 und kürzlich im April polizeilich vernommen, bislang ohne ­Resultat. Mediapart und La Voix du Nord schrieben, Hermant sei ein Informant der Gendarmerie und der Zollfahndung gewesen und habe in deren Auftrag im Waffenhandel mitgemischt.

Diese Vielzahl an möglichen und tatsächlichen Verstrickungen nährt Spekulationen, dass die Ermittlungen zu den Toten im Kanal bisher nicht ­zufällig ergebnislos blieben. Zudem war in der Vergangenheit der Verdacht aufgekommen, mit der extremen Rechten sympathisierende Polizisten hätten Namen und Adressen von Antifaschisten, die sie im Zuge von Personalienfeststellungen gesammelt hatten, an das »Flämische Haus« weiterge­geben. Dieses hatte mehrfach entsprechende Listen veröffentlicht.