Der italienische Zeichner Zerocalcare über dessen Comic »Kobane Calling«

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Der italienische Comiczeichner Zerocalcare bereiste das türkisch-syrische Grenzgebiet. In »Kobane Calling« erzählt er auf beein­druckende Weise von den Geschichten der Bewohner und ihren Versuchen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Kobanê. Rojava. Diese Namen waren noch vor fünf Jahren außerhalb der Region und der kurdischen Diaspora höchstens einer Handvoll Eingeweihter ein Begriff. Heute kennt sie jeder, der halbwegs regelmäßig die Nachrichten verfolgt. Kobanê, die Stadt, die es schaffte, den »Islamischen Staat« zu vertreiben, als die Terrormiliz sie schon fast erobert hatte. Und Rojava, die autonome Region im Norden Syriens, die den ­Jihadisten effektiver zu widerstehen scheint als die meisten anderen ­Gebiete in dieser unübersichtlichen Konfliktzone.

Dorthin ist der italienische Comiczeichner Michele Rech alias Zerocal­care gemeinsam mit einigen italienischen Unterstützern zweimal gereist. 2014 begab er sich an die türkisch-syrische Grenze, 2015 besuchte er Kobanê selbst, um humanitäre Hilfs­güter zu überbringen. Aber auch, um sich ein Bild der Lage zu verschaffen und von dort zu berichten. Die Eindrücke seiner Reisen veröffentlichte Zerocalcare als Comic. 2016 erschien der über 250 Seiten starke Band in Italien und wurde dort mehr als 150000-mal verkauft.

Zerocalcare wohnt in Rebbibia, einem Stadtteil im Osten Roms, mit dem er sich eng verbunden fühlt – so eng, dass er in »Kobane Calling« mindestens alle zehn Seiten davon erzählt.

Der Erfolg von »Kobane Calling« machte Zerocalcare, der in Italien schon vorher zu den erfolgreichsten Comiczeichnern seiner Generation gehörte, endgültig zu einer Art Star des Genres. Das zeigte sich auch, als er kürzlich zur Vorstellung der deutschen Übersetzung seines Buchs in Berlin war. Etwa zwei Drittel der Anwesenden stammten aus Italien – oder sprachen zumindest Italienisch.

Zerocalcare selbst wirkte angesichts des Andrangs nahezu überwältigt. Er selber – so wirkt auch die ­Perspektive, die er in seinem Buch einnimmt – scheint die Dinge eher von außen zu betrachten. Eine für kritische Reflexion zuträgliche Angewohnheit. »Ich war immer ein Außenseiter«, erzählt er. »Selbst in der Punkszene, da war ich als Straight Edger, also jemand, der weder trinkt noch raucht, immer eine Minderheit in der Minderheit.«

Vor allem aber ist Zerocalcare ein Linker. Mit Leib und Seele, könnte man sagen. Der heute 34jährige wurde wie so viele in seinem Alter ­geprägt durch die globalisierungskritischen Bewegung und vor allem von den Protesten in Genua 2001, bei denen der italienische Demonstrant Carlo Giuliani von einem Polizisten erschossen wurde. Auch in ­»Kobane Calling« tauchen die Erinnerungen an damals auf.

Seine politische Sozialisation fand vor allem in den centri sociali statt, den selbstverwalteten sozialen Zentren Roms. Zerocalcare wohnt in ­Rebbibia, einem Stadtteil im Osten Roms, mit dem er sich eng verbunden fühlt – so eng, dass er in »Kobane Calling« mindestens alle zehn Seiten davon erzählt. Auch an jenem schwülwarmen Abend in Berlin gibt er freimütig zu: »Ich bin kaum drei Stunden hier und ich mag Berlin; aber ich vermisse Rebbibia!«

Wegen des starken Bezugs des Zeichners zum eigenen Wohnort ist wohl die Frage nach der Herkunft als Metathema in »Kobane Calling« eingegangen. So interessant es ist, den Künstler durch die Türkei, den Irak und Syrien zu begleiten und führenden Persönlichkeiten des kurdischen Widerstands zu begegnen, das Buch wäre weniger fesselnd, würde Zerocalcare seine Erlebnisse nicht mit Eindrücken aus dem römischen Alltag kontrastieren.

Anders als Joe Sacco, mit dessen dokumentarischen Comics über Gaza oder Bosnien »Kobane Calling« häufig verglichen wird, versucht ­Zerocalcare nicht, seine Leserinnen und Leser mit der Brutalität der Wirklichkeit zu überwältigen. Vielmehr tritt er immer wieder vom ­Geschehen zurück, um die Ereignisse zu kontextualisieren. Als Folie dient ihm dann Rebbibia – etwa wenn er feststellt, dass die Frontlinie so nah ist wie die übernächste Straßenbahnstation um die Ecke; oder wenn er darstellt, um wie viel gefährlicher es ist, in Nordsyrien die falsche Abzweigung zu nehmen. In Rom landet man schlimmstenfalls in den Fängen einiger Ultras von Lazio. Im Nord­irak in denen des IS.

Immer wieder schiebt der Comicautor Monologe von Personen ein, denen er auf seinen Reisen begegnet ist. In wenigen Worten erzählen sie ihm ihre Geschichten. Da ist zum Beispiel der alte Mann aus Diyarbakır, der erst in der Türkei verhaftet wurde und dann nach Mosul floh, wo er von Vertretern des Baath-Regimes erneut verhaftet und schließlich beinahe ermordet wurde. Seit 33 Jahren ist er nicht mehr in der Türkei ge­wesen, nicht einmal zum Begräbnis seiner Mutter. Ob er sich im Irak inzwischen zu Hause fühle, fragt Zerocalcare. »Ich kann mich hier nicht zu Hause fühlen«, sagt der Mann. »Ich werde mich erst wieder zu Hause fühlen, wenn ich in meine Heimat zurück kann.«

Dann ist da die junge Kurdin, die in Italien lebt und die Zerocalcare und seinen Begleitern als eine Art Reiseleiterin und Übersetzerin zur Seite steht. Man lernt sie als lebensfrohe, ständig lachende junge Frau kennen, die keine Angst zu kennen scheint. Dann werden Details ihrer Biographie enthüllt. Mit 13 Jahren ist sie nach einer Demonstration in Diyarbakır festgenommen worden und wurde für sechs Monate ins ­Gefängnis gesteckt. Später entschied ihre Familie, dass es sicherer wäre, wenn sie das Land verließe. Kaum in Italien angekommen, wurde sie in der Türkei zu 22 Jahren Haft verurteilt. Auch für sie gab es von da an kein Zurück mehr.

Schicksale wie diese bilden den Stoff von Zerocalcares Erzählungen. Warum er Sympathie für die kurdische Sache hegt, ist nachvollziehbar. Trotzdem versucht der Comicautor, Distanz zu wahren. Er will nicht glauben, sondern sich allenthalben überzeugen lassen. Deshalb sucht er unablässig nach Widersprüchen – und wird häufig von der Realität in Rojava überrascht. »Was mich am tiefsten beeindruckt hat, ist, dass dort alles immer und immer wieder ­diskutiert wird«, sagt er. »Von dieser Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik könnte auch die europäische Linke noch einiges lernen.«
Zerocalcare skizziert den Versuch, inmitten von Krieg und Terror einen Ort zu schaffen, an dem Demokratie und Selbstbestimmung gelten. Im ­Januar 2014 gab sich die Bevölkerung von Rojava eine soziale Charta. Gleichberechtigung und Religionsfreiheit sollten garantiert, die Todesstrafe verboten werden. Der Autor nennt Rojava deshalb einen »Hoffnungsschimmer für die Menschheit«.

All das Hinterfragen und Zweifeln machen »Kobane Calling« zu mehr als einer gezeichneten Reportage aus Rojava. Zerocalcare beschreibt, wie es ist, im Falschen nach dem weniger Falschen zu suchen. Und er dokumentiert, wie schwierig es ist, auf der richtigen Seite der Barrikade zu stehen, wenn man nicht einmal mehr weiß, wo genau sie sich eigentlich befindet.

Leseprobe


Zerocalcare: Kobane Calling. Avant-Verlag, Berlin 2017, 272 Seiten, 24,95 Euro