Ein Besuch im berüchtigten Drogenviertel »Cracolândia« in São Paulo

Verloren im Crackland

Das als Cracolândia bekannte Viertel in der Innenstadt von São Paulo ist berüchtigt für seine Drogenszene. Die Straßenzüge sind Symbol für die Drogenepidemie des Landes, bieten aber auch Hunderten Abhängigen ein Zuhause. Immer wieder wird das Viertel geräumt.

Die Blicke seien das Schlimmste. »Die Leute schauen uns an und ekeln sich.« Jessica*, kantiges Gesicht, warme, glasige Augen, wirkt müde beim Sprechen. Ein kratzender, tiefer Husten unterbricht sie. Langzeitfolgen nennt man das hier. Wie alt sie sei? So um die 30. Über die kurzen, krausen Haare hat sie sich eine graue Ballonmütze gestülpt. Von weitem sieht Jessica aus wie ein Popstar aus den Neunzigern. Die junge Frau kommt aus einer verschlafenen Kleinstadt in der Nähe von São Paulo. Seit drei Monaten lebt sie im bekanntesten Drogenviertel Lateinamerikas.

Niemandsland, Zombiestadt, ein Stückchen Hölle – das Viertel hat viele Namen. Der bekannteste lautet Cracolândia. 700 Menschen tummeln sich hier – nachts sind es oft dreimal so viele. Einen Steinwurf vom piekfeinen Konzertsaal Sala São Paulo entfernt befindet sich das Herz von Cracolândia. Fluxo (Fluss) nennt man die verfallenen Häuserblocks im Norden der Innenstadt. Nachts leuchten die Crackpfeifen in allen Ecken der dämmerigen Straßen auf. In graue Decken wie in Kokons gehüllte Menschen liegen auf den Bordsteinen. Hunderte sitzen unter Plastikplanen oder wandern mit leeren Blicken umher. Ein süßlich-chemischer Geruch liegt in der Luft. Aus einer gekachelten Eckkneipe dröhnt ohrenbetäubende Musik. Wie in Trance wackelt eine junge Transsexuelle mit geschlossenen Augen zum Rhythmus der Musik. In der Mitte einer Straße stehen mehrere blaue Plastikzelte.

»Obwohl wir versuchen, den Leuten zu zeigen, dass wir kämpfen, werden wir unterdrückt, geschlagen und beleidigt.«
Jessica, Crackabhängige

Junge Männer in Sportkleidung und mit dicken Goldketten um den Hals sitzen hinter kleinen Plastiktischen, auf denen sich beigefarbene Cracksteine stapeln. Wie auf einem Obstmarkt wechseln Scheine und Ware den Besitzer. Ein Stein kostet hier rund drei Euro. Das reicht für zwei kurze Highs.
»Ich bin nicht nach Cracolândia gekommen, um … «, Jessica stockt kurz, »um eine Cracolândianerin zu werden.« In ihrer konservativen Heimatstadt hätten die Menschen ihre Drogensucht nicht akzeptiert. Ihre einzige Möglichkeit: ein neues Leben, ein Neustart »irgendwo, wo mich niemand kennt«. Ihr Partner Wesley* ging zuerst nach São Paulo. Jessica folgte kurze Zeit später. Mehrere Tage irrte sie durch die Hochhausschluchten der Megametropole. Schließlich fand sie Wesley – in Craco­lândia. Heute schlafen die beiden auf einer gammeligen Matratze unter freiem Himmel.

Arm, aber high
Cracolândia entstand vor rund 20 Jahren. In den achtziger Jahren kamen die ersten Kokainlieferungen nach Brasilien. Das »weiße Gold« zog das Land in einen Strudel aus Gewalt, Gier und Sucht. In den Neunzigern rauchten im größten Land Lateinamerikas die Ersten Crack. Heute konsumieren nirgendwo auf der Welt so viele Menschen Crack wie in Brasilien. Das Koksderivat wird in meist selbstgebastelten Pfeifen geraucht. Über die Lunge gelangt der Wirkstoff schnell zu den Nervenzellen des Gehirns. Die Wirkung ist intensiv: Euphorie, Schwerelosigkeit, Energie. Für ­einen Moment kann man alles vergessen. Der Trip ist kurz und der Fall tief. Eine chemische Achterbahnfahrt.

Keine Droge macht schneller abhängig als Crack. Die Liste der Nebenwirkungen ist lang: Depressionen, Angstzustände, Schlafstörungen. Oft konsumieren Abhängigige die Droge tagelang, ohne zu schlafen. Und Crack ist billig. So rauchen vor allem Arme die »Teufelsdroge«. Der Großteil der Bewohnerinnen und Bewohner von Cracolândia stammt aus der armen Vorstadt, die São Paulo wie ein dichter Wald aus Wellblech und Backsteinen umgibt. Viele saßen bereits im Gefängnis. Es sind Menschen, für die kein Platz in der brasilianischen Gesellschaft ist. Die großen Medien bauen Angstszenarien auf und verteufeln Cracolândia als Hort des Elends und der Kriminalität. Allerdings bieten die berüchtigten Straßenzüge vielen Ausgestoßenen Schutz und eine gewisse Solidarität.

Seit ein paar Wochen nehmen Jessica und Wesley an einem Antidrogenprogramm der Landesregierung teil. Frühstücken, Gruppenaktivitäten, kleine Jobs – ein halbwegs geregelter Tagesablauf. Ihren Drogenkonsum konnten beide verringern. »Obwohl wir versuchen, den Leute zu zeigen, dass wir kämpfen, werden wir unterdrückt, geschlagen und beleidigt«, sagt Jessica. »Das macht mich traurig. Jeder hat einen Grund, hier zu sein, jeder hat eine Geschichte.«

Geschichten gibt es viele in Craco­lândia. Die meisten handeln von Leid und Gewalt. Aber auch hier gibt es so etwas wie einen Alltag – und klare Regeln. Diebstahl untereinander und Gewalt sind tabu. Vor den »Engeln«, den Kindern, sollen keine Drogen konsumiert werden. Der Zusammenhalt der Bewohnerinnen und Bewohner ist stark. Wesley, Anfang 30, Spiegelglatze, Zahnspange, meint: »Wir sind hier alle Freunde und respektieren uns. Es ist wie in einem Dorf.«

»Wir versuchen, eine Beziehung zu den Personen aufzubauen, um ihnen so zu helfen, schrittweise ihren Konsum zu reduzieren.« Marquinho Maia, Mitarbeiter eines Programms akzeptierender Drogenarbeit

Repression oder Akzeptanz
Das Viertel ist der Staatsmacht jedoch seit langem ein Dorn im Auge. Polizeioperationen sind an der Tagesordnung, so wie zuletzt bei den Groß­razzien am 11. Juni und einige Wochen zuvor am 21. Mai. Bei den Einsätzen kommt es oft zu Menschenrechtsverletzungen. »Erst letztens hat die Polizei dort drüben einen Jungen verhaftet und ihn grün und blau geschlagen«, erzählt Wesley und zeigt auf eine Straßenecke. Die Polizei begründet die Einsätze meistens damit, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Die Leidtragenden der Operationen sind aber oft die Abhängigigen. Wenn ein Dealer verhaftet wird, ist am nächsten Tag ein neuer da.

2014 initiierte der damalige Bürgermeister Fernando Haddad unter Federführung des städtischen Gesundheitsamtes ein mutiges Pilotprojekt: »Mit offenen Armen« war eine 180-Grad-Wende in der Drogenarbeit. Mit unkonventionellen Maßnahmen sollte der Konsum reduziert werden: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verpflichteten sich zu einfachen Arbeiten, wie Straßenreinigung und Begrünung von Parks. Als Gegenleistung erhielten sie Verpflegung, Unterkunft in Hotels, medizinische Grundversorgung – und ­einen kleinen Lohn. Der Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten. Man helfe den Süchtigen, ihre Drogen zu bezahlen, hieß es aus konservativen Kreisen. Befürworter argumentierten hingegen, dass die Drogenkranken dabei unterstützt würden, wieder ein halbwegs geregeltes Leben zu führen. Sucht könne nur bekämpft werden, wenn man die Menschen wieder in die Gesellschaft integriere. Größter Streitpunkt war die Frage der Abstinenz. Vorher setzten städtische Programme einen kompletten Verzicht voraus. Beteiligte an »Mit offenen Armen« durften hingegen weiterhin Drogen konsumieren.

Das Programm knüpft an Projekte der »akzeptierenden Drogenarbeit« an, die in den Achtzigern erstmals in Europa und Nordamerika erprobt wurden. Durch die Ausgabe von sauberen Spritzen konnte die HIV-Infektionsrate bei Heroinabhängigen stark gesenkt werden. »Schadensreduzierung« nennt man das. Auch »Mit offenen Armen« setzte sich zum Ziel, Risiken zu vermindern, statt einen Entzug zu forcieren. Saubere Crackpfeifen, Kondome und Aufklärungsbroschüren wurden zu Tausenden verteilt. »Pflege und Freiheit« lautet die Leitlinie des Programms. Der enge Kontakt zwischen Sozialarbeitern und Abhängigen ist fundamental. »Wir versuchen, eine Beziehung zu den Personen aufzubauen, um ihnen so zu helfen, schrittweise ihren Konsum zu reduzieren«, erklärt der Mitarbeiter Marquinho Maia. »Unser Fokus ist nicht die Droge, sondern der Mensch.«

Über 500 Menschen nahmen zu Hochzeiten an dem Programm teil. Die Erfolge sprechen für sich. Einer Sta­tistik der Stadtverwaltung zufolge haben 88 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihren Konsum verringert. Mehr als die Hälfte der Befragten habe wieder Kontakt zu ihren Familien aufgenommen. Das Projekt hat Vorbildcharakter in ganz Lateinamerika.

Ohne Erlösung
Doch damit ist nun Schluss. Am 1. Januar trat João Doria den Posten des Bürgermeisters São Paulos an. Der millionenschwere Unternehmer inszeniert sich gerne als Mann des Volkes. So ließ sich der Politiker der rechten Partei PSDB in Müllmannuniform ablichten, besuchte Favelas und spazierte mit Obdachlosen durch die Stadt. Doch kurz nach Amtsantritt verbot Doria Obdachlosen, sogenannte Minifavelas unter Brücken zu errichten.

Bald kündigte er auch an, Cracolândia zu beseitigen. Ende Mai ließ er seinen Worten Taten folgen. Mehrere Hundert Polizisten stürmten das Viertel, rissen Zelte ab, trieben Drogenkranke zusammen. Für viele Stunden lag eine dicke Tränengaswolke über dem Viertel. Die Polizei lieferte sich Schusswechsel mit Dealern. Doria besuchte noch am selben Tag Cracolândia und ließ medienwirksam das Schild »Mit offenen Armen« abmontieren. Es war das Ende des Programms. Zuvor hatte er es als »Crack-Stipendium« verunglimpft. Von nun an sollen Arbeitsmaßnahmen eine Drogenabstinenz voraussetzen, Zwangs­internierungen sind geplant. »Erlösung« hat Doria sein Programm für Cracolândia getauft.

»Es ist lächerlich, bei einem Programm für Drogensüchtige vorauszusetzen, dass sie auf einmal aufhören, Drogen zu nehmen. Das ist ein langer Prozess und wird nicht von einem auf den anderen Tag geschehen«, sagt Raphael Escobar. Der Endzwanziger mit blondiertem Strubbelkopf hat mehrere Jahre als Sozialarbeiter in Cracolândia gearbeitet. »Die Politik von Doria lautet: Wenn man sich nicht anpasst, wird man zwangsinterniert oder verhaftet.« Zusammen mit anderen Sozialarbeitern, Gesundheitsexperten und Künstlern hat Escobar das Kollektiv »Craco wehrt sich« gegründet, als »Antwort auf die Pläne von Doria«, wie Escobar betont. Mehrmals in der Woche veranstaltet die Gruppe Kulturveranstal­tungen in Cracolândia, organisiert Nachtwachen und Demonstrationen und registriert Polizeigewalt. »Wir wollen eine Gegenöffentlichkeit als Antwort auf den medialen Diskurs herstellen«, sagt Escobar.

Unter Aufwertungsdruck
Hinter Dorias Politik der harten Hand stehen auch ökonomische Interessen. Lange galt die Innenstadt als verwahrlost, gefährlich und unattraktiv für die Mittel- und Oberschicht. Seit einigen Jahren interessieren sich jedoch wieder Investoren für das Stadtzentrum. Die Grundstückspreise rund um Cracolândia sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Die bekannte Bahnstation Luz liegt gleich um die Ecke. Im imposanten Prunkbau drängeln sich in den Morgen- und Abendstunden Tausende Pendlerinnen und Pendler. Ab und zu schaut auch mal ein Tourist vorbei. Mehrere renommierte Museen, Theater und Konzerthäuser befinden sich in der Nähe, aber auch viele besetzte Häuser und die letzte Favela im Zentrum von São Paulo. Kleine Elektrogeschäfte und billige Hotels reihen sich hier an zwielichtige Kneipen. Müllsammler mit sonnengegerbter Haut kreuzen die Wege von Sexarbeiterinnen und stylischen Hipstern.

In den vergangenen Jahren scheiterten mehrere Versuche, den dynamischen Stadtteil zu »revitalisieren«. Auch der linksliberale Fernando Haddad hatte als Bürgermeister erfolglos versucht, die Gegend aufzuwerten. Nun will der selbstdeklarierte self-made man Doria durchgreifen. Ganz unverhohlen kündigte er an, die Häuser rund um den fluxo zu enteignen und dort Immobilienfirmen freie Hand zu lassen. »Sozialhygiene« nennen Kritiker die Pläne von Doria. »Seit vielen Jahren hat der Staat großes Interesse an der Gegend«, sagt Ed Peixoto von »Craco wehrt sich«. »Sie wollen die Gegend ›reinigen‹ und in eine finanziell rentable Region umwandeln.« Kritik kommt nicht nur von den Bewohnern und ­sozialen Bewegungen. Internationale Organisationen rügten Mitte März in Wien auf einer UN-Drogenkonferenz die Pläne Dorias.

Brasilien folgt in der Drogenpolitik den USA. Dort begann der Staat in den Achtzigern mit dem »Krieg gegen die Drogen« und einer Null-Toleranz-Politik. Mittlerweile befinden sich Hunderttausende Menschen in den USA wegen Drogenvergehen hinter Gittern. So auch in Brasilien. Zwischen 1990 und 2014 hat sich die Gefängnisbevölkerung um das Siebenfache erhöht. Heute sitzen 600 000 Brasilianerinnen und Brasilianer im Gefängnis, ein Großteil davon wegen Drogendelikten. Der »Krieg gegen die Drogen« fordert fast kaum irgendwo so viele Opfer wie in Brasilien. Bei kriegsähnlichen Auseinandersetzungen in den Favelas sterben täglich viele Menschen. Hauptopfer ist die arme, schwarze Bevölkerung. Die Erfolge der Politik der harten Hand lassen auf sich warten. »Das Ziel des Staates ist es, bestimmte Menschen zu internieren, ins Gefängnis zu werfen und sie somit aus den Augen der Gesellschaft zu verdrängen«, meint Maia. Der 34jährige ist sich sicher: Nicht die Droge sei das Problem, sondern die soziale Situation der Menschen. Der Konsum und Verkauf von Drogen werde daher nicht enden, solange die Gesellschaft von extremer Ungleichheit geprägt sei.

Auch Experten warnen, dass man das Problem mit Gewalt nicht lösen könne. So auch in São Paulo: Nach der Räumung von Cracolândia sind die Abhängigen einfach ein paar Straßen weitergezogen. Auch der Drogenhandel ist zurück. Es ist eine Verlagerung des Problems, keine »Erlösung«.
Wesley hat Angst vor der Zukunft: »Wenn Doria wirklich ernst macht, wird es sehr schwierig für uns. Wir wissen nicht, wohin wir sollen.« Die Hoffnung will er aber nicht aufgeben: »Ich bin mir sicher, dass wir irgendwann clean seien und ein Dach über dem Kopf haben werden.« Er legt den Arm um Jessica und die beiden verschwinden im Gewimmel der Nacht.

*Name von der Redaktion geändert