Die medialen Reaktionen auf die Krawalle beim G20 in Hamburg

Institutionalisierter Irrsinn

In der Debatte über die Krawalle beim G20 machen sich viele Medien zu Vertretern der empörten Volksseele. Dementsprechend haben einige Verteidiger des Rechtsstaates eher den Volksstaat als Ideal, in dem die institutionellen Gegensätze zum Verschwinden gebracht werden sollen.

In Deutschland gibt es keine Parteien mehr, nur noch Opfer der G20-Krawalle. Diesen Eindruck mag man bei einem Blick in die Medien dieses Landes gewinnen. Die Bild-Zeitung sammelt für die verletzten Polizisten, um ihnen Kurzurlaube zu spendieren. Manch einer, der sich noch rechtzeitig wegen Dehydrierung krankgemeldet oder vom Kollegen das Pfefferspray abbekommen hat, wird sich nun freuen. In der FAZ wird eine gemeinsame Linie von Politik, Polizei und Journalisten gefordert und gegen sogenannte Extremisten mit Presseausweis geschrieben. Dass kritischen Journalisten beim G20-Gipfel die Akkreditierung entzogen wurde und die Namen als »Schwarze Liste« an die Polizei weitergegeben wurden, ist – obwohl zweifelsohne ein schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht auf Pressefreiheit und eine ebenso schwerwiegende Verletzung des Datenschutzes – kaum Thema. Die Empörungsauslöser liegen nicht an dieser Stelle.

Wenn es um Polizisten geht, versteht man in Deutschland traditionell sowieso keinen Spaß, vor allem aber keine Argumente. Denn der Volksschutz ist seit jeher Terrain der mal lau köchelnden, mal heiß kochenden Volksseele.

Es wäre überhaupt zu fragen, was man von einer Öffentlichkeit zu halten hat, die sich angesichts von drei Dutzend abgebrannter Kleinwagen und ein paar geplünderter Geschäfte bis zur Unkenntlichkeit hysterisiert, jedoch die Verarmung weiter Bevölkerungsschichten, die Zwangsverwaltung durch den repressiven Sozialstaat und die Perspektivlosigkeit zahlreicher junger Menschen achselzuckend zur Kenntnis nimmt – von den Toten an der europäischen Grenze oder den mit deutschen Kriegsmaterial Getöteten und Versehrten in aller Welt ganz zu schweigen. Besonders zynisch ist es, wenn in den Medien die Armen, Obdachlosen und Prekären, die sonst in den letzten Jahren medial gar nicht oder nur als schmarotzenden Leistungsempfänger auftauchten, plötzlich herhalten müssen, um die vermeintliche Illegitimität gewalttätiger Proteste zu demonstrieren.

Auffällig ist, wie sich manche Medien als verlängerter Arm der Polizei und Justiz präsentieren. Nicht nur werden – meist offenbar ohne jede weitere Überprüfung – die Presseverlautbarungen der Polizei übernommen. Scheinbar ist dem Gros der Journalisten die Vorstellung, dass die in den letzten Jahren ausgebauten sowie professionalisierten Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit der Polizei durchaus weder wert- noch interessenfrei sind, völlig fremd. Dass aber auch die Idee der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung und der freien Berichterstattung unter Journalisten so schlecht gelitten sind, gibt dann doch zu denken. Oder wie soll man sich sonst erklären, dass auf Titelseiten zur Identifizierung vermeintlicher Straftäter aufrufen wird, dass härtere Strafen gefordert werden, dass jedem, der nicht schnell oder konsequent genug dem Empörungslevel der öffentlichen Meinung entspricht, medial gemaßregelt wird? Oder dass mit dem Mittel der Distanzierung hantiert wird wie zu den Zeiten des sogenannten Deutschen Herbstes? Journalisten, die ihren Beruf ernst nehmen, also berichten, nach Ursachen forschen, Zusammenhänge darstellen, geraten in den Verdacht des Sympathisantentums und werden unter anderem in den Kommentarspalten der Artikel regelrecht verhetzt, wenn das nicht die geschätzten Kollegen übernehmen.

Wenn es um Polizisten geht, versteht man in Deutschland traditionell sowieso keinen Spaß, vor allem aber keine Argumente. Denn der Volksschutz ist seit jeher Terrain der mal lau köchelnden, mal heiß kochenden Volksseele. Als der Bundesrichter Thomas Fischer im Februar dieses Jahres zu Gast in einer Gesprächsrunde im Ersten deutschen Staatsfernsehen war, ging es um das Thema »Polizisten: Prügelknaben der Nation?« In der Sendung trat unter anderem ein Ex-Polizist als »Sicherheitsexperte« auf, der einem SPD-Politiker im Zuge des Austausches von Argumenten prompt Prügel androhte. Der unvermeidliche Rainer Wendt, »Sicherheitsexperte« von Junge Freiheit und Compact sowie Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, war ebenfalls geladen. Und zudem eine Blumenladenbesitzerin, die innerhalb einiger Jahre mehrmals das Opfer von Raub und Trickbetrug wurde – die »Betroffene« der Runde, die zum Thema (zur Erinnerung: Polizisten als Prügelknaben der Nation?) nichts beizutragen hatte, aber das grundlegende emotionale Empörungsniveau erhöhen konnte.

Fischer hatte sowohl die Fragestellung als auch die Zusammensetzung der Runde und den Verlauf der Diskussion in ihrer Absurdität und Abwesenheit von Inhalt kritisiert. Zudem hielt er eine Verschärfung der Gesetzgebung beispielsweise bei Angriffen auf Vollstreckungsbeamte weder für nötig noch für sinnvoll. Das wurde daraufhin so aufgefasst, dass er der Polizei in den Rücken fallen würde. Die empörte Volksseele meldete sich bei Fischer mit Nachrichten wie: »Schade, dass sich die NSU nicht Subjekte wie Sie es eine sind vorgenommen hat.« (Fehler im Original)

Diese Reaktionen kommen nicht von ungefähr. Die Sendung zeigte, dass die ARD in der Berichterstattung über die Polizei vor allem auf Gefühle, Alarmismus und Desinformation setzte. Dass aber die Kontrolle bewaffneter Staatsorgane möglicherweise eine der wichtigsten und dringlichsten Aufgaben einer demokratischen Öffentlichkeit sein könnte, ist in den zuständigen Redaktionen wohl kaum noch einen Gedanken wert. Im Gegenteil wird die Polizei als besonders bedroht und deswegen besonders schützenswert apostrophiert. Statt einer an Aufklärung interessierten, inhaltlich fundierten Diskussion gibt es einen politisch wie medial beförderten Diskurs der gefühlten Unsicherheit, der das katastrophisch gestimmte Weltbild autoritärer Charaktere befördert.

In der öffentlichen Rede, sowohl in der politischen als auch der journalistischen, wird zwar oft von Rechtsstaatlichkeit gesprochen. Doch in der Konsequenz klingt das dann meist eher nach dem Volksstaat, in dem alle institutionelle Gegensätze aufgelöst sind. Denn wer den Rechtsstaat für existierend hielte, würde doch dessen Institutionen unabhängig arbeiten lassen. Wer die Gewaltenteilung für vernünftig hielte, würde doch nicht die Gesetze verschärfen, um bessere Resultate in der Strafverfolgung zu erzielen. Und angesichts einer beschworenen gemeinsamen Linie von Politik, Polizei und Journalisten müsste doch auch der letzten Person mit Restvernunft aufgehen, dass dieses Ideal mit bürgerlicher Demokratie reichlich wenig zu tun haben dürfte. Wie nach den Krawallen von Hamburg über die Verteidigung des Rechtsstaates gesprochen wird, lässt die Ahnung aufkommen, dass dieser eher dem zum Wahn gesteigerten Verfolgungs- und Strafbedürfnis im Wege stehen dürfte. Dieser Irrsinn verschwindet aber nicht wie ein schlechter Traum, sondern institutionalisiert sich, als autoritärer Staat mit ausgeweiteten Rechtsbefugnissen und einer Rechtspraxis, die immer noch einen Schritt weiter ist.

Dass es in Deutschland keine Liberalen im Wortsinne gibt, ist nicht neu. Dass die Vertreter des bürgerlichen Staates nicht besseres zu tun haben, als dessen partielle Auflösung zum Schlechteren zu betreiben, auch nicht. Die Errungenschaften des Bürgertums, wie Freisetzung und Rechtsschutz des Individuums sowie Erweiterung der Produktion, werden nicht von den Vertretern des Bestehenden garantiert werden – im Gegenteil. In der Krise stehen der Abbau von Rechten und Vernichtung von Wert auf dem Programm.

Wie weit fortgeschritten der gesteuerte Zerfall von Gesellschaft ist, zeigt denn auch die den Zustand der Medien spiegelnde öffentliche Reaktion auf die G20-Krawalle. Der Zusammenhang erhellt sich erst durch Kritik. Die Fortschritte der bürgerlichen Gesellschaft vor ihren vermeintlichen Rettern zu retten wäre ein möglicher Ausgangspunkt einer Bewegung, die den historischen Zwangscharakter dieser Fortschritte – und deren Umschlag in die Barbarei – abzustreifen anstrebte.