Die Türkei ein Jahr nach dem Putschversuch

Offene Fragen, verschlossene Zellen

Auch ein Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei sind dessen Hintergründe nicht geklärt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan nutzte die Gelegenheit, um seine Macht zu festigen – und ein Ende der Repression ist nicht abzusehen.

Die Verhaftungen gehen weiter. Am Mittwoch vergangener Woche traf es zehn Vertreter von Menschenrechts­organisationen in Istanbul – darunter die Direktorin der türkischen Sektion von Amnesty International, İdil Eser. Bereits seit Juni sitzt der Türkei-Vorsitzende der Organisation, Taner Kılıç, in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, Anhänger des Islamistenführers Fethullah Gülen zu sein. Die Verhaftung, Enteignung und Entrechtung von Oppositionellen in der Türkei wird seit einem Jahr in den meisten Fällen so begründet.

Zwölf Monate nach dem vereitelten Putschversuch hat die türkische Regierung ihre Version einer Gülen-Verschwörung dogmatisiert und rechtfertigt damit ihre repressive Politik. Die Fetö (Terrororganisation Fethullah Gülen) habe die Macht ergreifen wollen, nun müssten deren Anhänger unschädlich gemacht werden – und als solche gelten der Regierung auch viele Oppositionelle, die immer Gegner der Gülen-Bewegung waren. Seriöse Beweise gibt es weder für Gülens Schuld noch für die angeblichen Vergehen der Oppositionellen.

Tausende müssen sich derzeit wegen des Vorwurfs verantworten, zum Verschwörernetz der Gülen-Bewegung zu gehören – auch Journalisten, die vor der Gülen-Bewegung gewarnt hatten.

Medien im In- und Ausland behaupten unhinterfragt, dass die Türkei am 15. Juli 2016 knapp einer großen Katas­trophe entgangen sei. Doch dient diese Darstellung dazu, die Zentralisierung der Macht zu begründen. Unter den Bedingungen des Ausnahmezustands stimmte die Bevölkerung in einem höchst umstrittenen Referendum im April für ein Präsidialsystem, das Prä­sident Recep Tayyip Erdoğan Befugnisse wie einem Sultan zugesteht.
Weiterhin gibt es Widerstand. Die Republikanische Volkspartei (CHP), die größte türkische Oppositionspartei, beendete am Sonntag ihren »Marsch für Gerechtigkeit« im Istanbuler Stadtteil Maltepe; dort sitzt einer ihrer Abgeordneten in Haft. Friedlich verlief diese wochenlange Langstreckendemonstration mit dem Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu in vorderster Reihe, doch die Solidaritätsbekundungen im ganzen Land sind angesichts der kompletten Entmachtung der Opposition weitgehend wirkungslos und kommen zu spät. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hat das Land fest im Würgegriff. Sie kontrolliert Exekutive, Judikative, Legislative und fast alle Medien. Unerträglich sind die täglichen Ansprachen von Repräsentanten der Staatsführung auf ­allen Kanälen, die behaupten, die Türkei wehre sich gegen innere und äußere Feinde; sie sei das einzige Land, das wirksam den Terror bekämpfe – eine Lobhudelei auf die eigene Größe mit der entsprechenden Schmähung aller Gegner im In- und Ausland.

Die Herrschaft eines türkischen Ayatollah Khomeini wurde nach Lesart von Justizminister Bekir Bozdağ im vergangenen Jahr durch die Vereitelung des Putschversuchs gerade noch verhindert. Angeblich wollte der in den USA lebende Gülen als politischer Führer in die Türkei zurückkehren. Boz­dağ ließ sich eine Woche vor dem Jahrestag beim türkischen Fernsehsender Habertürk über die angeblichen Hintergründe des misslungenen Staatsstreichs aus. »Ich wusste schon immer, dass die Fetö nicht allein gehandelt hat. Die Organisation hat alle Schritte des Putsches mit den von ihnen in den Militärapparat infiltrierten Elementen geplant, es gab aber auch noch andere Befürworter im Militär, die nicht zur Fetö gehörten.«

Tausende von Menschen müssen sich derzeit wegen des Vorwurfs verantworten, zum Verschwörernetz der Gülen-Bewegung zu gehören – darunter auch Journalisten, die in der Vergangenheit ausdrücklich vor der Unterwanderung von Polizei und Militär durch die Gülen-Bewegung gewarnt hatten, mit der Erdoğan bis 2013 zusammenarbeitete. Die halbe Redaktion der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet sitzt in Untersuchungshaft. Die Journalisten sollen sowohl der Fetö als auch der PKK gedient haben. Ein absurder Vorwurf, denn als Hauspostille der kemalistischen CHP steht Cumhuriyet beiden Bewegungen kritisch gegenüber.

Festnahmen sowie die Schließung von Printmedien und Fernsehsendern werden seit einem Jahr mit dem Antiterrorkampf und der inneren Sicherheit begründet. Alle Aussagen des Justiz­ministers dazu sind nebulös oder widersprüchlich. So bliebt unklar, was mit der Andeutung gemeint ist, es habe die Gefahr bestanden, dass eine ausländische Macht die Türkei besetze. Welcher Staat hätte daran ein Interesse? Die frommen einstigen Freunde aus der Gülen-Bewegung sollen unbemerkt eine übermächtige Terror­organisation gebildet haben. Warum verlief der Putschversuch dann so dilettantisch? Mitten am Tag standen die Panzer, die in der Nacht dann die Bosporus-Brücke besetzten, auf dem Weg zum Staatsstreich in Istanbul im Stau. Kein einziger Regierungspolitiker wurde festgesetzt, nur die mediale Präsentation der Putschisten auf dem staatlichen Sender TRT und der Aufruf des Präsidenten, das Volk möge sich widersetzen, waren perfekt inszeniert.

Ungeklärt bleibt auch die Frage nach dem Verbleib des angeblichen Kopfes der Verschwörung, Adil Öksüz, eines Theologen, der an der Universität Sakarya unterrichtete und Drahtzieher der Gülen-Bewegung in der Türkei gewesen sein soll. Da er nach seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft auf freien Fuß gesetzt wurde, konnte er untertauchen und wird seitdem gesucht.
Fast täglich berichten türkische Medien über Erfolge der Polizei bei der Terrorbekämpfung. Unglaublich ist aber angesichts der sonst üblichen Strenge die Sorglosigkeit in der Handhabung des Strafvollzugs, wenn es sich bei Tätern und Verdächtigen um Jihadisten handelt. Während opposi­tionelle Politiker und Journalisten in Untersuchungshaft auf den Beginn ihres Prozesses warten müssen, der oft lange hinausgezögert wird, werden Straftäter aus dem jihadistischen Milieu immer wieder freigelassen.

So weiß die Polizei bereits seit einem Jahr von dem »Emir von Adana«, Mahmut Kılıçaslan. Am 1. Juli 2016 war der heute als Hauptverantwortlicher des »Islamischen Staats« (IS) in Adana gehandelte 34jährige mit einem selbstgebastelten Sprengstoffgürtel in die große Sabancı-Moschee geschlendert und hatte den Betenden gedroht, sich in die Luft zu sprengen. Er wurde daraufhin überwältigt und der Polizei übergeben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt seitdem wegen »Behinderung der Ausübung der Religionsfreiheit, fahrlässiger Körperverletzung und Verbreitung von Angst und Schrecken«. Obwohl die Staatsanwaltschaft 70 Jahre Haft fordert, wurde Kılıçaslan im Januar aus der Untersuchungshaft entlassen. Just vor dem G20-Gipfel schnappte die Polizei den »Emir« in Adana mit zwölf Kumpanen vom IS.

Die Geschichte dazu ist wenig glaubwürdig. Über die sozialen Medien habe die Polizei verfolgt, dass die Gruppe Militante ausbilde. Unter den Festgenommenen befinden sich zwei Minderjährige, ein Kind und die 14jährige indonesische Ehefrau des »Emirs«, die nach Angaben der Festgenommen vor einem Jahr in Indonesien gekauft worden sei. Die Türkei kontrolliert seit eineinhalb Jahren den Zuzug von Ausländern und gewährt nur ein dreimonatiges Aufenthaltsrecht. Eheschließungen mit Minderjährigen sind strafbar. Es ist also schwer vorstellbar, dass die Ordnungskräfte bei einem bereits als gewalttätig aufgefallenen Jihadisten dieses Vergehen übersehen haben.

Die Polizei weiß von jihadistischen Zellen, IS-Anhänger wurden jüngst auch in Bursa, Konya und Van festgenommen. Die plötzlichen Festnahmen entspringen einem politischen Kalkül. Präsident Erdoğan fordert seit einem Jahr die Auslieferung von Gülen- und PKK-Anhängern, die in europäischen Staaten leben, und präsentiert stets die Fahndungserfolge als Beispiele effektiver Terrorbekämpfung. Interpol hat gerade Fahndungsersuchen für Zehntausende Terrorverdächtige aus der Türkei vorliegen, denen mit berechtigtem Misstrauen begegnet wird.
Eine vor allem politische Gegner verfolgende Justiz sollte auf internationaler Ebene nicht unterstützt werden. Doch eine politische Isolierung der Türkei scheint nicht möglich zu sein. Vor dem G20-Gipfel beschwerte sich die Türkei darüber, dass Demonstrationen gegen Erdoğan in Deutschland nicht unterbunden werden. Zu eben dem Zeitpunkt, als die EU die Türkei wegen der Menschenrechtsverletzungen mahnte, kam es zu der Festnahme der Menschenrechtler in Istanbul. Angesichts einer marginalisierten Opposition seiner Macht in der Türkei derzeit sicher, kann Erdoğan sich bislang auch darauf verlassen, dass seine fortdauernden Provokationen und seine dubioser Umgang mit Jihadisten geduldet werden.