Die mutmaßliche Entführung eines hochrangigen Kaders der KP Vietnams deutet auf Machtkämpfe innerhalb der Partei hin

Der lange Arm der Traditionalisten

Ein ehemaliger hochrangiger Kader der Kommunistischen Partei Vietnams wurde in Berlin entführt. Es geht dabei offenbar um den Machtkampf zwischen verschiedenen Lagern innerhalb der KP Vietnams.

Es fällt immer schwer, Sigmar Gabriel (SPD) zuzustimmen. Aber der Bundesaußenminister hat recht, wenn er sich an »finstere Filme über den Kalten Krieg« erinnert fühlt. Derart mag es nämlich am 23. Juli gegen 10.40 Uhr in Berlin-Tiergarten zugegangen sein: Nach Augenzeugenberichten zerrten bewaffnete Männer auf offener Straße einen Mann und eine ihn begleitende Frau in ein Auto mit tschechischem Kennzeichen. Bei dem Entführten handelte es sich um Trinh Xuân Thanh, ­einen ehemaligen hochrangigen Kader der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) und vormaligen Leiter des staatlichen Unternehmens Petro Vietnam Construction Company.

Seit elf Monaten lebte Trinh in Deutschland, er hat hier Asyl beantragt. In Vietnam wurde 2016 Haftbefehl ­gegen ihn erlassen. Ihm wird Unterschlagung von Dollarbeträgen in dreistelliger Millionenhöhe vorgeworfen. Acht Tage nach der Entführung tauchte er in einer Sendung des staatlichen ­vietnamesischen Fernsehens in Hanoi auf. Dort wird er als reumütiger Heimkehrer präsentiert. Angeblich hat er sich freiwillig gestellt. Trinh wird vermutlich nach Artikel 278 des vietnamesischen Strafgesetzbuchs wegen Unterschlagung angeklagt werden. Die Strafe hierfür reicht von 20 Jahren Haft bis zur Todesstrafe, wenn der Unterschlagungswert mehr als 500 Mil­lionen Dong (ungefähr 18 500 Euro) beträgt.

Die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft, die nach wenigen Tagen den Fall übernommen hat, deuten darauf hin, dass es sich um eine gezielte Entführung des vietnamesischen Geheimdienstes Tong Cuc An Ninh handelte. Das Auswärtige Amt ergänzte, es gebe »keinen vernünftigen Zweifel« an einer Entführung. Die Geschichte birgt damit schon ausreichend Brisanz. Doch weitete sie sich in den vergangenen Tagen zu einer passablen Spionageaffäre aus. Denn die entscheidende Frage lautet: Woher wusste der vietnamesische Geheimdienst von Thanhs Aufenthaltsort? Eine maßgebliche Rolle hierbei könnte der Vietnamese Ho Ngoc T. gespielt haben. Der in Vietnam bekannte Autor, der regelmäßig für die Parteizeitung Nhân Dân schreibt, ist nach Recherchen des Spiegel seit 26 Jahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Jena beispielsweise in Anhörungen von Asylbegehren tätig. In dieser Funktion hatte er Zugriff auf die Register und Akten dort, könnte somit auch an Informationen über den Asylantrag und den Aufenthaltsort von Trinh gekommen sein und diese an den vietnamesischen Geheimdienst weitergeleitet haben. Zwar ließ das BAMF verlautbaren, dass derzeit »kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Mitarbeiter und dem mutmaßlichen Entführungsfall« bestehe. Ho Ngoc T. wurde trotzdem vorläufig suspendiert.

Hinter all diesen Geschehnissen lassen sich politische Machtspiele innerhalb der KPV vermuten. Seit 1986 unter dem Namen Đoi moi eine Reformpolitik aufgenommen wurde, die marktwirtschaftliche Öffnungen vorsieht, gibt es innerhalb der KPV zwei Flügel: die Traditionalisten, die den klassischen Staatssozialismus verteidigen, und die Modernisierer, die weitere wirtschaftliche Öffnungen durchsetzen wollen. Trinh zählte zum Lager der Modernisierer des ehemaligen Premierministers Nguyen Tan Dung (2006–2016).

Derzeit läuft eine große Antikorruptionskampagne, die sich vor allem gegen hochrangige Parteifunktionäre richtet. Zum einen versucht die KPV, die allgegenwärtige Korruption zu ­bekämpfen. Zum anderen werden unter dem Deckmantel dieser Kampagne auch Mitglieder des Reformflügels kaltgestellt. Die Traditionalisten unter dem KP-Generalsekretär Nguyen Phú Trong scheinen ihre Macht beweisen zu wollen. Die Wahrung der Menschenrechte spielt dabei keine Rolle, offenbar ebenso wenig die guten Beziehungen zu Deutschland. Denn es stellt sich die Frage, warum Vietnam eine Entführung in der Bundesrepublik anordnet und damit das Verhältnis der beiden Staaten ernsthaft gefährdet.

Die Reaktion Deutschlands auf die Entführung war eindeutig: »Das Verhalten der vietnamesischen Geheimdienste auf deutschem Boden ist vollkommen inakzeptabel. So etwas tolerieren wir unter keinen Umständen«, so Außenminister Gabriel. Der Vertreter des Dienstes in der vietnamesischen Botschaft in Berlin wurde ausgewiesen. Weitere Maßnahmen wie die Streichung von Entwicklungszusammenarbeit stehen zur Debatte. Die Reise einer deutschen Delegation, bei der ein Kreditvertrag über ungefähr 150 Milli­onen Euro hätte unterzeichnet werden sollen, wurde vorerst ausgesetzt. Offenbar hatten die Funktionäre der KPV nicht mit einer so starken Reaktion Deutschlands gerechnet und den möglichen Schaden unterschätzt. Berichten zufolge hat die vietnamesische Regierung der deutschen nun aber ein Gesprächsangebot zu dem Fall unterbreitet.

Wie sich die Affäre weiter entwickelt, ist offen. Mittlerweile gab es im Zuge der Ermittlungen eine erste Festnahme, wie eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft bestätigte. Der mutmaßliche Fahrer des Tatfahrzeugs wurde von der tschechischen Polizei in Prag festgenommen.

Egal wie die Vernehmungen des Verdächtigen ausgehen, eine Frage bleibt: Wurde Trinh als Asylsuchender von einem deutschen Staatsangestellten an den vietnamesischen Geheimdienst verraten?