Der »Islamische Staat« ist in Spanien gut vernetzt

Die Zelle von Ripoll

Jihadistische Attacken mit mindestens 15 Toten und etwa 100 Verletzten suchten in der vorigen Woche Katalonien heim. Acht der zwölf mut­maßlichen Mitglieder der Terrorzelle sind tot, vier verhaftet.
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Vier Tage war er auf der Flucht. Dann, am Montagnachmittag, wurde Younes Abouyaaqoub, ein 22jähriger Marokkaner, von der katalanischen Polizei Mossos d’Esquadra nahe Barcelona erschossen; angeblich trug er eine Attrappe einer Sprengstoffweste. Er war der letzte flüchtige Verdächtige, der ­einer mindestens 12köpfigen Zelle angehört haben soll, die in den Tagen zuvor diverse Attentate in Katalonien verübt hat. Vier der mutmaßlichen Mitglieder der Zelle wurden am Dienstag in Madrid dem Obersten Gerichtshof vorgeführt. Acht sind tot – erschossen von der Polizei oder bei einer Explosion ums Leben gekommen. Alle stammten aus Ripoll (Girona), einer kleinen Stadt in Katalonien. Fast alle waren jung, marokkanische Staatsbürger oder Spanier mit marokkanischem Hintergrund, vier Brüderpaare waren unter ihnen. Sie werden von den Behörden der Anschläge in Katalonien mit 15 Toten und etwa 100 Verletzten beschuldigt.

Eine neue, junge Generation von Jihadisten träumt davon, die Dominanz über das einstige al-Andalus wiederzuerlangen, das in ihren Augen ein »goldenes Zeitalter« repräsentiert.

Am Donnerstag voriger Woche raste ein weißer Fiat-Transporter über Las Ramblas in der katalanischen Metropole Barcelona und hinterließ 13 Tote und mindestens 88 Verletzte. Der Fahrer – es war, wie sich später herausstellte, der am Montag erschossene Younes Abouyaaqoub – entkam zu Fuß. Acht Stunden später wurde eine spanische Frau getötet und sechs weitere Menschen wurden verletzt, als ein Audi mit fünf Mitgliedern derselben jihadistischen Zelle in dem touristischen Küstenort Cambrils Fußgänger überfuhr. Die fünf in dem Wagen, mit Attrappen von Sprengstoffwesten ausgerüstet, wurden von der Polizei erschossen. Der »Islamische Staat« (IS) reklamierte die Taten für sich.

Kurz darauf teilte die Mossos d’Esqua­dra mit, die Zelle habe offenbar einen weit größeren Anschlag in Barcelona geplant. Bereits Mittwochnacht hatte eine Explosion ein Gebäude in der Kleinstadt Alcanar, etwa 190 Kilometer südlich von Barcelona, zerstört, in dem offenbar eine große Autobombe gebastelt werden sollte. Nach Angaben der Behörden explodierte dort versehentlich der Sprengstoff TATP, der vom IS bereits bei Anschlägen in Paris und Brüssel verwendet worden war und wegen seiner extremen Instabilität auch als »Mutter des Satans« bekannt ist; bei der Detonation starben mindestens zwei Menschen. Zudem hatte die Terrorzelle nach und nach mehr als 100 Butangasflaschen für Anschläge in dem Gebäude angesammelt. In Ermangelung von Sprengstoff nach der Explosion scheint die Zelle ihre Pläne geändert und sich für die Attacken mit angemieteten Autos entschieden zu ­haben.

Die katalanische Polizei geht davon aus, dass die Terrorzelle aus mindestens zwölf Mitgliedern bestand. Lediglich eines, der 45jährige Abdelbaki al-Satty, der als Kopf der Gruppe gilt, war bekannt für Verbindungen zu jihadistischen Kreisen; zwei oder drei waren wegen Kleinkriminalität in Konflikt mit dem Gesetz gekommen.

Al-Satty war von 2010 bis 2014 wegen Drogenhandels in Castellón de la Plana inhaftiert und kam im Gefängnis angeblich mit einem Attentäter in engen Kontakt, der am 11. März 2004 an den Terroranschlägen auf Madrider Pendlerzüge mit 192 Todesopfern beteiligt war. Möglicherweise hatte er auch Verbindungen zu belgischen Jihadisten. Seit ein oder zwei Jahren fungierte al-Satty in Ripoll in einer Moschee als Imam und gab Jugendlichen Arabisch- und Religionsunterricht. Mitglieder der islamischen Gemeinde dort betonen, dass mit seiner Ankunft »die Stimmung unter den Jungen umschlug«. Die Behörden vermuten, dass er der Kopf der Zelle war und die Jugendlichen indoktrinierte. Seine DNA wurde in dem safe house in Alcanar ­gefunden, die Behörden gehen davon aus, dass er dort bei der Explosion getötet wurde. Al-Sattys spezifische Rolle in der Formierung der Zelle und seine mutmaßlichen internationalen Verbindungen zu jihadistischen Kreisen sind Gegenstand der Ermittlungen.

Am Freitag, dem Tag nach der Todesfahrt auf Las Ramblas, fand mittags in Barcelona eine Schweigeminute statt. Tausende Menschen waren anwesend, darunter viele Muslime. »Ich habe keine Angst«, »No tinc por« auf Katalanisch, war der Slogan wider den Terror. Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau (Barcelona en Comú, »Gemeinsam für Barcelona«) twitterte: »Die Angst wird niemals siegen.« Sie ist seit Juni 2015 in der katalanischen Metropole an der Macht, »einer weltoffenen, mutigen und solidarischen Stadt«, wie sie sagt. Die einstige Hausbesetzerin erlangte in ganz Spanien Berühmtheit als Aktivistin gegen Zwangsräumungen säumiger Hypothekenkreditnehmer. Eine Fülle an Städten schützt ihre Fußgängerzonen inzwischen mit Barrieren gegen mögliche Attacken mit Fahrzeugen. Dergleichen hatte Colau an Las Ramblas nicht ver­anlasst, was ihr die konservative Partei PP und rechten Kommentatoren nun vorwerfen – sowie der reaktionäre Priester Santiago Martín in Madrid, einst Religionsressortchef der rechten Tageszeitung ABC und im Staatsfunk TVE ­tätig, der in seiner Sonntagsmesse forderte, Colau »wegen Mittäterschaft an den Attentaten anzuzeigen«.

Rechtsextreme Gruppen versuchen, die Anschläge zu instrumentalisieren, wie das Movimiento Hogar Social (MHS), das am Samstag die Hauptmoschee in Granada mit Rauchbomben attackierte und dabei »Islamisten raus aus Europa« skandierte. In Madrid versuchten am Freitag voriger Woche Anhänger des MHS, die Schweigeminute für die Opfer mit dem Wurf von Tomaten­saucebeuteln zu stören, vergebens. Ein Aufmarsch am selben Tag unter der Führung von Mitgliedern der einstigen faschistischen Einheitspartei Francos, Falange Española de las JONS, wurde von Bewohnern im Zentrum Barcelonas unterbunden.

Seit den neunziger Jahren existieren in Katalonien jihadistische Umtriebe. 1995 nahm die Polizei in Barcelona Le Monde zufolge die ersten Mitglieder der Bewaffneten Islamischen Gruppe (GIA) fest, der brutalsten salafistisch-­jihadistischen Organisation im algerischen Bürgerkrieg. In den Jahren darauf wurden zahlreich Zellen der GIA in der Region zerschlagen. Daraufhin versuchten, so Le Monde, einige ihrer Mitglieder ein neues Netzwerk für Attacken zu bilden, diesmal unter dem Banner von al-Qaida; auch dieses löste die Polizei auf. Wie der Experte David de Caixal vom US-amerikanisch-israelischen Antiterror-Consulter Secindef betont, seien »Katalonien und Barcelona das Epizentrum des Salafismus und des radikalen Islam in Spanien«. Knapp 80 Moscheen würden von ­Salafisten geführt, »das ist eine von drei in der Autonomieregion«, wie de Caixal sagt. Sie seien potentielle Brutstätten der Radikalisierung. Von knapp 600 000 Muslimen in Katalonien wiesen etwa 9 000 »ein radikalisiertes Profil« auf.

Allein 2017 wurden in Spanien 57 Personen (2016: 69) in Antiterrorrazzien festgenommen, 101 binnen der vergangenen zwölf Monate. Mehr als 1 000 Menschen standen Anfang Juli wegen Terrorismusverdachts unter Polizeibeobachtung. Etwa 500 Tele­fone werden derzeit überwacht. Zwei Brennpunkte der spanischen Behörden im Antiterrorkampf sind neben Katalonien und Madrid die nordafri­kaschen Enklaven Ceuta und Melilla, insbesondere deren Stadtteile El Príncipe sowie La Cañada. Von hier aus wurde ein beachtlicher Teil der knapp 200 spanischen IS-Kämpfer in Syrien rekrutiert.
In jüngster Zeit mehrten sich Hinweise darauf, dass Spanien im Visier der Jihadisten des IS steht. Manuel ­Torres, Professor an der Universidad Pablo de Olavide in Sevilla, der zu in­ternationaler Sicherheit forscht, beobachtet eine steigende Zahl direkter Drohungen gegen Spanien in der Onlinekommunikation des IS und seiner Sympathisanten, immerhin 33 im Jahr 2016 (2015: 21).

Das kommt nicht von ungefähr. In der Mythologie der Jihadisten nehmen die sieben Jahrhunderte muslimischer Herrschaft im Süden Spaniens einen besonderen Platz ein. Ab 711 nahmen die Umayyaden den größten Teil der iberischen Halbinsel ein und schufen die Provinz al-Andalus innerhalb ihres Kalifats; das letzte islamische Königreich, jenes von Granada, erlosch 1492 mit der Eroberung der Stadt durch ­Isabella von Kastilien und Ferdinand II. von Aragon. Verfolgung, Repression, Zwangskonvertierungen und Massenausweisungen folgten mit dem sogenannten Alhambra-Edikt.

Vor allem die junge Generation von Jihadisten träumt davon, die Dominanz über das einstige al-Andalus wiederzuerlangen, das in ihren Augen ein »goldenes Zeitalter« repräsentiert. 2014 kursierten auf islamistischen Youtube-Kanälen Videos in spanischer Sprache, wie das zweier marokkanischer IS-Kämpfer in Syrien, Nouredin Majdoub und Salahedin Ghaitu, mit ­einem Aufruf, Spanien, »das Land ihrer Groß­väter, zurückzuerobern«. Dem ­Appell schloss sich Mohammed Hamduch alias »Kokito Castillejos« an, der Berühmtheit erlangte, weil er mit einem halben Dutzend abgeschnittener Köpfe posierte. Ende 2015 starb er in Syrien.

»Die Forderung von al-Andalus ist mehr als ein Problem der Wahrnehmung«, schrieb der mit einer Fatwa-Todesdrohung belegte algerische Autor Kamel Daoud in Le Quotidien d’Oran. »Es ist eine ideologische Halluzination. Sie beweist, dass es gelungen ist, eine Generation ohne Gegenwart oder Zukunft zu schaffen, die über die Vergangenheit wie im Fieber phantasiert.«