Die jihadistischen Anschläge in Spanien und die Debatte über die »marokkanische Komponente«

Die marokkanische Komponente

Viele jihadistische Attentäter, die als Mitglieder größerer Gruppen handelten, wie die Urheber der jüngsten Anschläge in Spanien, waren marokkanischer Herkunft. Warum dies so ist, wird derzeit diskutiert.

Gibt es ein besonderes marokkanisches Modell des Jihadismus, eine besondere Affinität zu dieser bewaffneten Ausprägung des Islamismus? Dies behauptete jedenfalls jüngst Farhad Khosrokhavar, ein französischer Soziologe iranischer Herkunft. In einem Artikel in der Tageszeitung Le Monde vom Donnerstag voriger Woche rekapituliert er, dass die Attentate in Deutschland 2016 überwiegend von einzeln handelnden Tätern begangen worden seien, die erst seit kurzem in Deutschland gelebt hatten. Unter ihnen waren Afghanen und Tunesier. Diese hätten sich zum »Islamischen Staat« (IS) bekannt, ohne notwendig in einem organisierten Zusammenhang zu stehen. In Großbritannien seien Jihadisten überwiegend nicht arabischer, sondern »pakistanischer Herkunft oder junge Schwarze«. Die jüngste Attacke in Westminister sei von einem Einzeltäter südasiatischer Herkunft begangen worden.

Hingegen entsprächen die Attentate von Mitte August in Barcelona und Cambrils einem anderen Modell, das eher dem der Anschläge in Paris vom 13. November 2015 ähnele: In beiden Fällen habe es sich um strukturiert handelnde organisierte Kleingruppen von jeweils etwa zehn Mitgliedern gehandelt, die wesentlich größeren Schaden anrichteten als Einzeltäter. Die Gruppen hätten überwiegend aus Marokkanern, respektive Franzosen und Belgiern marokkanischer Herkunft, bestanden.
Khosrokhavar führt dies darauf zurück, dass die marokkanischen Einwanderer in Spanien, Frankreich und Belgien – besonders jene berberischer Sprachzugehörigkeit – von Erfahrungen der Unterdrückung durch das marokkanische Regime, aber auch der Diskriminierung in Europa geprägt seien. Er stellt sich sodann die Frage, warum man seltener algerisch- als marokkanischstämmige Jihadisten in den fraglichen Gruppen antreffe, obwohl die Erfahrung kolonialer Unterdrückung im Zusammenhang mit dem Algerien-Krieg viel stärker ausgeprägt gewesen sei. Khosrokhavar sagt dazu: »Marokko exportiert seine Jihadisten, während ihre algerischen Gleichgesinnten auf ihrem eigenen Territorium aktiv bleiben, eine Konsequenz aus der langen Bürgerkriegsperiode (…) in den neunziger Jahren.«

Erwartungsgemäß weckte diese starke Hervorhebung einer »marokkanischen Komponente« keine Begeisterung in Marokko. Eine empörte Antwort auf den Beitrag Khosrokhavars erschien einen Tag darauf in der Internetzeitung Le360.ma. Der Autor Aziz Bada weist unter den mit Namen versehenen Porträtfotos von neun der Attentäter aus Katalonien die Idee zurück, diese hätten ihre ideologische Prägung in Marokko erhalten: Die Mehrzahl von ihnen sei im Alter zwischen drei und elf Jahren nach Spanien gekommen.

Nach der sexuellen Belästigung einer jungen Frau in einem Bus in Casablanca wachsen Proteste für die Rechte von Frauen.

Bada stellt die These auf, es sei die erzwungene kulturelle Inzucht in »Wohnvierteln und Schulen, die durch die meisten Herkunftsspanier gemieden werden«, die »eng gezogene Identitäten begünstigt«, zugleich »Frustrationen züchtet« und deswegen günstige Voraussetzungen für die jihadistische Propaganda schaffe. Dieser Nährboden finde sich jedoch in Spanien, nicht in Marokko.

Dies mag stimmen. Die Berichterstattung in Marokko ist aber auch von staatlichen Interessen geleitet. Die konstitutionelle Monarchie versucht seit langem, sich den europäischen Staaten als Partner für geopolitische »Stabilität« und wirtschaftliche Zusammenarbeit anzudienen. In jüngerer Zeit bringt sie dabei auch ihre Kooperationsbereitschaft im Kampf gegen den Jihadismus ins Spiel. Da der marokkanische König der Staatsdoktrin zufolge direkt vom Propheten abstammt und zugleich Amir al-Mu’minin (Anführer der Gläubigen) ist, setzt die Regierung den Islamisten einen von oben kontrollierten Staatsislam entgegen.

Zwei Tage vor Beginn der Kontroverse um Khosrokhavars These hatte die französische Tageszeitung La Nouvelle République unter Berufung auf den Professor für Geopolitik Emmanuel Dupuy berichtet, die marokkanischen Behörden hätten ihre spanischen Amtskollegen vor den Attentaten in Katalonien vor spanisch-marokkanischen Doppelstaatsbürgern gewarnt. Dabei hätten sie auch auf Ripoll hingewiesen, die Stadt in der Nähe der Pyrenäen, in der die meisten der Attentäter aufwuchsen oder wohnten, und diese als »spanische Entsprechung zu Molenbeek« bezeichnet, dem Viertel der belgischen Hauptstadt, aus dem viele Jihadisten stammen. Die Rivalität zwischen den zentralstaatlichen und den regionalen katalanischen Behörden in Spanien vor dem für den 1. Oktober geplanten Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien habe die Auswertung vieler Informationen jedoch behindert.

Marokko, Portugal, Spanien und Frankreich arbeiten seit Jahren in einem als »G4« bezeichneten Rahmen im Polizei- und Justizwesen zusammen. Neben der Bekämpfung des Jihadismus geht es Marokko dabei auch um Repression anderer missliebiger Formen politischer »Dissidenz«. Am 23. August überstellten die spanischen Behörden den marokkanischen Kollegen etwa den Journalisten Najim Belgharbi. Er hatte in Spanien Antrag auf politisches Asyl gestellt und angegeben, vor einer Verhaftungswelle infolge der Protestbewegung in der Berberregion im Rif-Gebirge zu fliehen.

Die jüngsten Einordnungsversuche von Khosrokhavar erscheinen holzschnittartig. Ihm zufolge war der algerische islamistische Terrorismus überwiegend nach innen gerichtet und unterscheidet sich dadurch vom marokkanischen. Dabei vergisst er jedoch, die erste große jihadistische Anschlagswelle zu erwähnen, eine Serie von Bombenanschlägen in französischen Verkehrsmitteln zwischen Juli 1995 und Dezember 1996. Diese war das Werk algerischer Islamisten, den Groupes islamiques armés (GIA).

Auch der erste bedeutende jihadistische Anschlag auf marokkanischem Boden, der auf das Hotel Atlas-Asni in Marrakesch im August 1994, war das Werk algerischer und französischer Jihadisten, die dafür nach Marokko eindrangen. Die nächsten größeren Attentate, in Casablanca im Mai 2003, gingen hingegen auf das Konto französisch-marokkanischer Jihadisten. Damals sprengten sich zwölf Attentäter an verschiedenen Stellen der Stadt in die Luft und töteten 33 Menschen. Die Antwort der marokkanischen Behörden war repressiv, es gelang ihnen, die meisten al-Qaida-nahen Zellen in den Untergrund zu treiben. Das jihadistische Attentat auf ein Touristenrestaurant in Marrakesch mit 17 Toten im Jahr 2011 blieb ein Einzelfall. Zwischen 2011 und 2013 verfolgten die marokkanischen Behörden eine Art Jihad-Export. Nach ihren Angaben haben sich etwa 1 600 Marokkaner nach Syrien begeben, der International Crisis Group zufolge verließen schätzungsweise 2 000 Marokkaner mit doppelter Staatsbürgerschaft die Immigrantencommunitys in Europa. Seit dem Aufstieg des IS 2014 befürchteten die marokkanischen Behörden Rückkehrer aus dem syrischen und irakischen Kriegsgebiet und verschärften die Grenzkontrollen sowie die Antiterrorgesetzgebung mit harten Strafen gegen jeden, der ausreisen wollte, um sich jihadistischen Gruppen anzuschließen.

Als marokkanische Besonderheit könnte gelten, dass unter der Regentschaft des despotischen Königs Hassan II. (1961–1999) die im Ausland lebenden Marokkaner vom marokkanischen Staat hauptsächlich als Bedrohung betrachtet und aufgefordert wurden, sich nicht zu assimilieren oder am besten gleich nach Marokko zurückzukehren. Dadurch wurden sie in ihren Aufnahmeländern, verstärkt durch rassistische Diskriminierung, in soziale Randständigkeit und kulturelle Isolation gedrängt. Hassan II. war stets gegen das Leben in der Emigration, das kulturelle Identitäten und Loyalitäten aufweiche; erst sein Sohn und Nachfolger Mohammed VI. bindet auch die Auslandsmarokkaner verstärkt ein. Diese Randständigkeit war bei algerischen oder tunesischen Einwanderern so nie gegeben.

Hoffnung auf das Aufbrechen reaktionärer Identitäten kommt unterdessen von innen. Infolge eines spektakulären Falls sexueller Belästigung einer jungen Frau in einem Bus in Casablanca protestiert seit anderthalb Wochen ein wachsender Teil der marokkanischen Gesellschaft für Frauenrechte. In Tanger, Rabat, Marrakesch und Agadir fanden Sit-ins überwiegend von Frauen statt. Die Empörung reicht weit über feministische und Menschenrechtskreise hinaus.

Zugleich gibt es seit Tagen in Katalonien und im übrigen Spanien in Reaktion auf die Attentate eine Welle von gegen tatsächliche und vermeintliche Marokkaner oder Muslime gerichteten Gewalttaten. Drei Jugendliche wurden beispielsweise in Fitero südlich von Navarro verletzt. In Puerto de Sagunto wurde ein 14jähriger von einem Autofahrer als »Drecksaraber« beschimpft und getreten.