Die Wut der Nadine Shah tut der abgebrühten Indie-Szene gut

Zurück zur Wut

Die britische Songwriterin Nadine Shah leistet auf ihrem neuen Album »Holiday Destination« antirassistische Basisarbeit.

Ausgerechnet Stevie Wonder! Ein Musiker, den die junge Generation eigentlich nur als sein eigenes Klischee kennt, den blinden, ewig gutgelaunten Soul-Typen am Klavier, »I Just Called to Say I Love You« singend. Dieser Stevie Wonder inspirierte die britische Songwriterin Nadine Shah zu einem der wütendsten Alben, das die Indie-Szene in den vergangenen Jahren kennengelernt hat.

Wut und Indie, das ging lange nicht mehr gut zusammen. Vielleicht ja auch noch nie. Wut, das war früher Punk und Hardcore und Hip­Hop, mittlerweile ist es überwiegend die black music, die sich nicht mit dem Schulterzucken über Missstände begnügt. Während Kendrick Lamar und Beyoncé in ihrer Musik gegen Hass politisch werden, macht die gewöhnliche Indie-Band noch immer Songs über den Sommer. Ist ja auch okay, ist halt nur nicht mehr so angemessen. Die Musikzeitschrift Spex widmete der Wut vor einigen Wochen vielleicht auch darum eine ganze Ausgabe – weil da was im Argen liegt, aber auch ein Wandel in der Luft. Nadine Shah könnte eine Pionierin sein für die nächste Ära politischer Songwriter.

Und die wird ganz anders klingen als die vorherigen, als die Liedermacher der Sechziger, auch als deren Epigonen, Kevin Morby oder die Fleet Foxes, die ihrerseits in diesem Sommer Alben veröffentlichten haben, auf denen sie versuchen, gesellschaftliche Irritationen zu verarbeiten. »Meine Texte waren so dunkel, darum sollte die Musik gerade nicht niedergeschlagen sein«, sagt Shah nun im Interview. »Der Grat zwischen dem Übermitteln einer Botschaft und einer Predigt ist so schmal! Ich möchte den Entmenschlichten ihre Menschlichkeit wiedergeben, Geschichten erzählen von Menschlichkeit, aber in der Musik sollte Energie sein. Meine größte Inspiration war darum Stevie Wonder.« Denn der Songwriter Wonder hat auch neben dem notorischen Duett »Ebony and Ivory« mit Paul McCartney etliche antirassistische Stücke veröffentlicht; seinen Oscar widmete er 1985 dem inhaftierten Nelson Mandela, schon 1973 veröffentlichte er mit »Living for the City« einen der ersten Soul-Songs, der strukturellen Rassismus behandelt. »Man kann zu diesen Songs tanzen, aber es gibt eine klare politische Message. Und es ist sehr clever, Musik so zu machen, denn bei aller Sorge: Stevie Wonder möchte Hoffnung geben, nicht die Hörer erschlagen.«

Shahs Karriere begann an diesem Punkt: Mit ihrem ersten Album von 2013, bitter-brillant »Love Your Dum and Mad« betitelt, verarbeitete sie mit eher gotischen Klängen die Suizide zweier enger Freunde. Nick Cave und PJ Harvey waren als Referenzen schnell zur Hand. Wichtiger als solche Komplimente aber war für die in London lebende, 1986 geborene Songwriterin die Erkenntnis, welches Potential Musik entwickelt, die Themen anspricht, die in Pop sonst keinen Platz finden. Sie stieß einen offenen Dialog über psychische Probleme, über Psychosen und Sucht an. »Ich bekam so viele Reaktionen, es war überwältigend. Am Anfang versuchte ich, Dialoge zu führen. Aber ich musste lernen, dass ich nicht die Person bin, die wirklich auf die Geschichten antworten kann, die mir erzählt wurden. Trotzdem öffnete es mir die Augen: Immer wenn man etwas tut, hat das einen Effekt auf eine andere Person. Jemand muss damit leben, wie du etwas machst. Für mich bedeutete das, in meiner Musik mehr Verantwortung zu übernehmen.«

Nadine Shah - Holiday Destination

Dann sah sie einen Fernsehbericht, den sie nun im Titeltrack des neuen Albums verarbeitet hat, »Holiday Destination«. Britische Touristen auf der griechischen Insel Kos beschweren sich dort vor laufenden Kameras über die Anwesenheit von Flüchtlingen, die sie in ihrer Urlaubs­idylle stören. »Ich war fassungslos über diesen kompletten Empathieverlust. Ich bin fassungslos, wenn ich sehe, wie schamlos Menschen im Fernsehen davon erzählen, wie sehr es ihnen egal ist, dass Menschen in ihrer nächsten Umgebung leiden.« In einem Song, der tatsächlich in Klang und Energie da anschließt, wo PJ Harvey 2011 mit »Let England Shake« soziale Ungleichheit in Großbritannien besang, sarkastisch bis bitter und mit Pop-Appeal, findet Shah im Refrain eine schlichte, aber treffende Frage: »How you gonna sleep tonight?«
Shah singt mit einer tiefen, vibrierenden Stimme, unter der immer eine Art Glut zu glimmen scheint, den Soundtrack zur sogenannten Flüchtlingskrise, auf den Europa seit zwei Jahren wartet und den Kettcar mit ihrem kürzlich gefeierten Lied »Sommer ’89« nur für mittelalte, weiße Akademiker liefern konnten. Sie lenkt den Blick dabei auf die rassistischen Strukturen Großbritanniens, in denen Nationalismus und Menschenfeindlichkeit weiter fruchtbaren Boden finden. »Dabei kennt Großbritannien Migration seit Jahrhunderten. Wir sind eine Insel, wir sind aufgebaut auf Migration. Es gibt keine ›eingeborenen‹ Engländer. Die Idee ist lachhaft.« Sehr direkt singt sie davon im Song »Out the Way«, der mit Post-Punk-Gitarre, unruhigem Saxophon und drängendem Gesang gehörigen Druck entwickelt. Hier beschreibt sie auch eigene Erfahrungen: »Mein Vater ist Pakistani und war oft Opfer rassistischer Angriffe. Das betrifft meine Familie und mich ganz direkt.« Ihre Mutter ist Norwegerin – aber ein solcher Migrationshintergrund muss im Europa der Weißen nicht wirklich thematisiert werden.

»Großbritannien kennt Migration seit Jahrhunderten. Wir sind eine Insel, wir sind aufgebaut auf Migration. Es gibt keine ›eingeborenen‹ Engländer. Die Idee ist lachhaft.« Nadine Shah

Darum betreibt Shah mit ihrer Musik antirassistische Basisarbeit. Sie gehört zu einer immer größeren, völlig heterogenen Gruppe von Menschen, die die noch immer sehr weiße, männliche Welt des Indie-Rock ein wenig diverser macht und zu der auch Japanese Breakfast, Vagabon oder Mitski gehören, Musiker, die mittlerweile nicht mehr nur thematisiert werden, weil sie den gewissen Novelty-Faktor besitzen. »Früher nervte mich, wenn das zur Sprache kam. Ich wollte, dass die Leute aufhören, in diesen Kategorien zu denken, und sich mit meiner Musik auseinandersetzen. Aber mittlerweile bin ich froh darüber, dass es sichtbar wird. Und meine beiden pakistanischstämmigen Nichten haben jetzt ein Vorbild. Vor mir kannten sie keine Musikerinnen, die so aussehen wie sie.«

Die Wut, die ihrer Musik innewohnt und die Shah im Interview mit Fassungslosigkeit über die Zustände begründet, kann sie manchmal abschalten. Dann lacht sie über ihre WG und über ihr Verlangen danach, alle sehen zu lassen, dass auch sie morgens aufsteht und an ihre Arbeit geht, auch wenn diese nicht nach Arbeit aussieht. Dann wünscht man fast, dass eine Zeit kommt, in der sie über solche Themen schreiben kann, über die Großstadt-Boheme oder wieder, wie auf ihrem zweiten Album »Fast Food«, über misslungene Liebschaften. Aber man weiß eigentlich: Das dürfte noch eine ganze Weile dauern.

Nadine Shah: Holiday Destination (Pias Coop/1965 Records/Rough Trade)