Nordirak im Wahlkampf für das kurdische Unabhängigkeitsreferendum

Unabhängigkeit ist nicht alles

Massoud Barzani, der Präsident der Autonomen Region Kurdistan, will am 25. September in einem Referendum über die Unabhängigkeit der Region vom Irak abstimmen lassen. Viele Kurdinnen und Kurden und vor allem Angehörige anderer im Nordirak lebender Bevölkerungsgruppen kritisieren dieses Vorgehen.

Die Bässe wummern aus den übersteuerten Boxen und hallen durch das Tal von Dohuk, der Provinzhauptstadt im äußersten Nordwesten des Irak. Eine tiefe Stimme besingt die Heldentaten der Peshmerga, der kurdischen Kämpfer.Knapp 20 Männer haben sich vor dem kleinen Büro der Kurdischen Demo­kratischen Partei (KDP) versammelt. Sie verteilen Fähnchen und Flyer. Ein Konvoi von sieben weißen Toyota-Pickups brettert hupend an der Szenerie vorbei. Die Insassen schwenken grün-weiß-rote Fahnen mit der gelben ­Sonne Kurdistans in der Mitte. Nach ­einer Stunde ist die Party vorbei. Die Fähnchen werden eingerollt, die ­Boxen wieder verstaut.

Es ist Wahlkampf im Norden des Irak. Auf Geheiß des Präsidenten der Auto­nomen Region Kurdistan, Massoud Barzani (KDP), sollen in einem Referendum am 25. September mehr als sechs Millionen Wahlberechtigte in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinzen Erbil, Suleymaniah und Dohuk über eine Abspaltung der Region vom Irak abstimmen. Auch einzelne Kommunen und Distrikte in den Provinzen Niniveh, Kirkuk und Diyala werden in dem Referendum darüber entscheiden, ob sie sich einem unabhängigen Kurdistan anschließen wollen. Auch in diesen Gebiten leben Kurden, zusammen mit Christen, Yeziden, Turkmenen und Arabern.

Bereits seit 1991 ist die Autonome Region Kurdistan mit der Haupstadt Erbil politisch vom Rest des Irak weitgehend getrennt. Der seit 2014 währende Konflikt mit den jihadistischen Milizen des »Islamischen Staats« (IS) hat diesen Zustand verfestigt. Die Auto­nome Region Kurdistan verfügt über eine eigene Regierung, Polizei und ­Armee. Bei der Ankunft am Flughafen in Erbil drücken die Grenzbeamten kurdische Visastempel in die Reisepässe. Was fehlt, ist die internationale ­Anerkennung als souveräner Staat.

Auf den ersten Blick erscheint die formelle Unabhängigkeit Kurdistans als logische Konsequenz. Doch die ­irakische Regierung wehrt sich vehement gegen den Verlust des Territoriums. Der Türkei und dem Iran graut es vor einem geeinten Kurdistan. USA und EU bestehen auf der territorialen Integrität des Irak. Auf Druck der Vereinten Nationen erwog Präsident Barzani am Donnerstag vergangener Woche gar, das Referendum, das bereits mehrmals angekündigt worden war, noch einmal zu verschieben. Doch selbst ein erneuter Aufschub der Volksabstimmung dürfte dem kurdischen Streben nach Staatlichkeit nur einen kleinen Dämpfer verpassen.

Israel als Vorbild
»Wir wollen ein zweites Israel werden!« Xalid Ehmed, stellvertretender Vorsitzender der regierenden KDP in Dohuk, weiß, dass ein Erfolg der Unabhängigkeitsbestrebungen nur mit internationaler Unterstützung möglich sein wird. Sein Büro liegt in einer Seitengasse in Dohuks Innenstadt. Er ruht in ­einem breiten Ledersessel, auf seinem sandfarbenen Sakko ist ein kleiner ­Anstecker mit den Umrissen Kurdistans befestigt. »Wir wollen kein Land der Muslime sein, kein Rückzugsort für radikale Gruppen. Schon jetzt sind wir eine Demokratie«, sagt er.

Der Verweis auf die bislang einzige Demokratie im Nahen Osten ist fragwürdig. Doch er dürfte das stärkste ­Argument für die kurdische Unabhängigkeit auf internationalem Parkett sein. Trotz wirtschaftlicher und politischer Krisen und der militärischen ­Bedrohung durch die Milizen des IS seit 2014 werden die Freiheits- und Menschenrechte in der Autonomen Region Kurdistan weitgehend gewahrt. Die Sicherheitslage ist stabil. Die Pressefreiheit ist gesetzlich garantiert, doch üben KDP und PUK (Patriotische Union Kurdistans, die zweite große Partei der Autonomieregion) oft Druck aus. Christliche und yezidische Minderheiten sind laut Verfassung gleichgestellt. Auch deshalb flohen Hunderttausende vor der Gewalt des IS und schiitischer Milizen in die autonomen Provinzen im Norden des Irak. »Auch die Menschen in den Flüchtlingslagern sind stimmberechtigt«, sagt Ehmed. »Kurdistan soll nicht nur ein Platz für Kurden sein. Auch Christen, Turkmenen und Yeziden sollen hier frei leben dürfen. Unsere Türen sind für alle geöffnet, auch die Araber.« Human Rights Watch wirft den kurdischen Truppen allerdings vor, im Kampf gegen den IS Araber vertrieben zu haben, überdies werde die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge im Nord­irak eingeschränkt.

Die KDP ist die treibende Kraft hinter dem Referendum. Seit 1946 führt sie die kurdischen Revolten gegen die Zentralregierung in Bagdad an. Eine Abstimmung sollte es bereits 2014 geben. Als der IS jedoch weite Teile des Irak überrannte und bis auf 40 Kilometer an die kurdische Hauptstadt Erbil heranrückte, wurde die Abstimmung verschoben. Nach der endgültigen Vertreibung der Islamisten aus Mossul und Tal Afar schien nun die Zeit für die Abspaltung gekommen. Die kurdischen Peshmerga kämpften bei der Befreiung Mossuls an der Seite der irakischen Armee, Hunderte kamen bei den Kämpfen seit 2014 ums Leben. Im Verständnis vieler Kurdinnen und Kurden war dies der letzte Blutzoll, der für die Unabhängigkeit zu entrichten war.

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In diesem Wahlkampf genügen einfache Botschaften. Unzählige kurdische Fähnchen werben für das Referendum

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Thomas Kieschnick

Doch der seit 2014 währende Konflikt mit dem IS war für die Kurden auch ein wichtiges Signal an die internationalen Partner: Die irakische Armee ist weder in der Lage noch gewillt, die kurdischen Provinzen zu verteidigen. ­Wären die Peshmerga nicht umfassend mit Waffen beliefert und von der US-Luftwaffe unterstützt worden, hätte es in Erbil wahrscheinlich ein Massaker gegeben. »Die Kurden wissen, dass die Regierung in Bagdad ihre Sicherheit nicht garantieren kann«, schreibt der kurdische Wissenschaftler Davan Yahya Khalil. Seine Schlussfolgerung: »Für die irakische Regierung ist es ­unmöglich, Ansprüche auf die Region Kurdistan zu erheben, wenn sie noch nicht einmal die eigenen Kerngebiete kontrolliert.«

Auch Ehmed glaubt nicht, dass sich die Beziehungen zur Regierung in Bagdad je wieder bessern werden. Zu belastet sei das Verhältnis zwischen Kurden und Arabern im Land. Mindestens 50 000 Menschen wurden getötet, als Saddam Hussein 1988 den Nordirak mit Giftgasangriffen und Bombardements überzog. 2003 kämpften die kurdischen Peshmerga gemeinsam mit US-Soldaten gegen die irakische Armee. »Wir haben mehr als genug«, sagt ­Ehmed. »Seit über 100 Jahren warten wir nun auf unsere Unabhängigkeit. Es ist Zeit.«

Kurdische Machtkämpfe
Die Straßenzüge von Erbil und Dohuk sind geschmückt mit bunten Girlanden. An jeder Laterne wehen die kurdischen Nationalfarben, selbst auf den Heckscheiben der Verkehrspolizei kleben Banner, die dazu aufrufen, am 25. September das Kreuz hinter »Bale«, Kurdisch für Ja, zu setzen. Doch der ­Anschein kurdischer Einheit trügt, es gibt zahlreiche rivalisierende Gruppen und Interessen. Je näher das Datum des Referendums rückt, desto mehr Kurdinnen und Kurden bekunden ihren Unmut über die Autonomieregierung und den Zeitpunkt des Referendums. Zwar unterstützt außer der regierenden KDP auch die PUK die Abstimmung, der politische Widerstand gegen die beiden militärisch stärksten Parteien in der Autonomieregion nimmt jedoch zu.
Einer derjenigen, die sich gegen das Referendum aussprechen, ist Moaid ­Ahmed, der Vorsitzende der Gorran-­Bewegung in der Provinz Dohuk. Gorran hat 24 von 111 Sitzen im kurdischen Parlament, die KDP 38 und die PUK 18. Die Bewegung, deren Namen auf Kurdisch Wandel bedeutet, hat sich seit ­ihrer Gründung 2009 zu einer der bedeutendsten politischen Kräfte der ­Region entwickelt. »Wir haben im Moment kein funktionierendes Parlament, Präsident Barzani führt sich auf wie ein König. Dabei ist er nicht befugt, ein Referendum auszurufen«, sagt Ahmed. Sein Büro liegt in einem imposanten Haus in den Außenbezirken von Dohuk. Drei große Klimaanlagen kämpfen gegen die Hitze von 46 Grad an diesem Septembertag. Die lauwarme Luft mischt sich mit dem Qualm seiner Zigaretten. »Die wahren Gründe für das Referendum sind innenpolitisch. Die KDP um Barzani will ihre Macht ausbauen und den Zugriff auf das Öl sichern«, sagt der Oppositionspolitiker.

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Sorgt sich um die Lage von Christen in einem zerstückelten Irak. Pater Andreas

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Thomas Kieschnick

Über Monate war das Parlament der Autonomieregion nach einem Streit zwischen KDP und Gorran suspendiert. Erst am Freitag vergangener Woche stimmten die Abgeordneten für das Referendum. In der Zwischenzeit hat die KDP ihre Macht allerdings konsolidiert und Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft besetzt. Barzanis Amtszeit war bereits 2013 abgelaufen, er regiert trotzdem weiter. »Seit 26 Jahren baut die KDP hier ihre Herrschaft aus«, sagt ­Ahmed. Er vermutet hinter dem Referendum ein Ablenkungsmanöver. Sollte am 25. September eine überwältigende Mehrheit für die Abspaltung vom Irak stimmen, könnte die KDP dies als innenpolitischen Erfolg verbuchen. »Wir wissen bereits, was die KDP am Tag nach der Wahl machen wird. Sie werden sich die Kontrolle über die 1,3 Millionen Barrel Öl sichern, die täglich gefördert werden. Seit 2014 ist die Wirtschaft Kurdistans fest in der Hand der KDP«, sagt Ahmed.
Wichtige politische und wirtschaftliche Fragen wurden vor dem Referendum nicht geklärt. Seit fast drei Jahren werden von der Regionalregierung in Erbil die Gehälter für Lehrkräfte und Beamte nicht oder nur teilweise gezahlt. Der Grund ist nach Angaben der KDP ein Budgetstreit mit der Zentral­regierung in Bagdad. Die Erlöse aus dem Ölverkauf sollten eigentlich reichen, um die Angestellten in der Verwaltung zu bezahlen. Doch häufig verschwindet Geld in schwarzen Kassen.

»Wir wollen kein Land der Muslime sein, kein Rückzugsort für radikale Gruppen. Schon jetzt sind wir eine Demokratie.« Xalid Ehmed, KDP

Die Gorran-Bewegung kritisiert das Demokratieverständnis der KDP. Vor einigen Monaten wurde das Büro des zu Gorran gehörenden Fernsehsenders Kurdistan News Network in Dohuk kurzerhand geschlossen. Drei Kameraleute und zwei Reporter blieben über Wochen zu Hause. Eine Begründung für den Schritt blieb aus. »Kurzfristig betrachtet geht es uns mit dem Status quo und einer Zentralregierung in Bagdad wohl besser«, sagt Ahmed.

Referendum mit Sprengkraft
Die Skepsis gegenüber dem Referendum ist in Dohuk besonders greifbar. Die 500 000 Einwohner zählende Stadt unweit der türkischen Grenze ist eine der wohlhabendsten Gegenden in der ­Autonomieregion. Die Preise für Bauland in der Innenstadt sollen bis zu 10 000 US-Dollar pro Quadratmeter betragen. In der Rush Hour drängeln sich Hummer, VW Touareg und teure japanische Allradfahrzeuge auf den frisch ­geteerten Straßen. Der Reichtum wurde hier seit 1991 dank des Handels mit Öl und Gebrauchswaren erwirtschaftet. Die Stadt liegt auf halber Strecke zwischen Bagdad und den türkischen Mittelmeerhäfen. »Sollte das Referendum einen negativen Einfluss auf die offenen Grenzen zur Türkei und in den Irak haben, wäre das für uns ein Desaster«, sagt Ayad Abdullahim von der Industrie- und Handelskammer in Dohuk. Er glaubt jedoch nicht, dass die Türkei im Fall einer kurdischen Unabhängigkeit die Grenze schließt und sich somit den Zugang zum irakischen Markt verbaut.

Instabilität ist schlecht fürs Geschäft. Dass die kurdische Autonomieregion weiterhin ein Hort von Frieden und Stabilität bleiben wird, ist jedoch nicht ­sicher. Mehr als 30 Prozent der Gebiete unter Kontrolle der Peshmerga gehören nicht offiziell zur Autonomieregion, sondern zu den Nachbarprovinzen. Der Anführer einer schiitischen Miliz im Irak ließ zuletzt durchblicken, dass die Kurden dort als Besatzer behandelt würden.

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Unterstützt das Referendum für die Unabhängigkeit. Xalid Ehmed von der KDP

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Auf halber Strecke zwischen Dohuk und Mossul liegt das kleine Dorf al-Qosh. In den Ausläufern der Zagros-Berge haben Mönche bereits im 7. Jahrhundert ein kleines Kloster errichtet. Von der Kirche blickt man kilometerweit über die verdorrten Stoppelfelder der Niniveh-Ebene. Die Menschen sprechen Arabisch. Pater Andreas wurde 2014 aus Kalifornien in die katholische Gemeinde entsandt, die derzeit von den Peshmerga kontrolliert wird. Fast zwei Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner sind nach dem Sieg über den IS noch nicht in ihre Häuser zurückgekehrt. »Wir unterstützen die Kurden, schließlich haben sie uns gerettet. Jetzt können wir unsere Religion wieder frei ausüben«, sagt der Pater in seinem Arbeitszimmer in einem Waisenhaus. »Aber ein zerstückelter Irak ist für uns keine gute Idee. Wenn jeder sein eigenes Land will, bleibt nicht viel Platz für die Christen.« Fast nostalgisch beschreibt er die Zustände im Irak in den siebziger Jahren. »Religion spielte damals kaum eine Rolle, in erster Linie waren wir alle Iraker«, sagt Andreas. »Heute muss ich Angst haben, zu sagen, dass ich Christ bin. Dabei bin ich Iraker und will in diesem Land in Frieden leben.«
In al-Qosh sieht man dem Referendum sonst gelassen entgegen. Es leben fast nur noch ältere Männer in dem Dorf. »Ich habe vier Kinder. Eines ist in Kanada, zwei sind in Großbritannien und eines ist in Deutschland. Die sind in ­Sicherheit«, sagt Abu Issa in einem Hähnchengrill im Dorfzentrum. Drei Stunden sitzt er jeden Mittag mit ­seinen Freunden in dem kleinen Verschlag. Ins Freie zu gehen, ist bei der Mittagshitze von 48 Grad im September keine gute Idee.

Es sind die Gebiete südlich der kurdischen Autonomieregion, in denen das Referendum besonderes Konfliktpotential entwickeln dürfte. Seit sich die irakische Armee 2014 aus weiten Teilen des Nordirak zurückgezogen hat, kontrollieren die Kurden große Landstriche in den Provinzen Niniveh, Kirkuk und Diyala. Hier leben Araber, Turkmenen, Kurden – Sunniten, Schiiten, Yeziden und Christen. Die lokalen Räte konnten selbst entscheiden, ob sie am Referendum teilnehmen wollen oder nicht. Hier wird der Widerstand gegen die kurdische Unabhängigkeit am deutlichsten sichtbar. Nachdem die Stadtversammlung in Mandali an der iranischen Grenze sich am Dienstag vergangener Woche für das Referendum aussprach, stürmten schiitische Milizen das Rathaus und entfernten die kurdische Flagge vom Dach.

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Befürchtet, dass es der KDP vor allem um ihren eigenen Machtgewinn geht: Moaid Ahmed von der Gorran-Bewegung

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Thomas Kieschnick

Besonders brisant dürfte in den kommenden Wochen die Debatte um den Status von Kirkuk werden. Das nordirakische Zentrum der Ölindustrie wird aufgrund seiner demographischen Zusammensetzung häufig als »Irak im Kleinen« bezeichnet. Als sich der Gouverneur der Provinz, Najmaldin Karim, für die Teilnahme am Referendum aussprach, wurde er kurzerhand vom irakischen Parlament abgesetzt. Für den 23. September haben schiitische Milizen eine Offensive auf die letzte ­IS-Festung im Irak, al-Hawija, angekündigt. Doch einige mutmaßen, dass sie es eigentlich auf Kirkuk abgesehen haben, das nur eine Autostunde östlich liegt, sollten die Einwohner der Stadt für einen Anschluss an ein unabhän­giges Kurdistan votieren.

»Wir machen uns Sorgen über das, was hier in den nächsten Tagen passieren wird«, schreibt ein Bekannter aus Jalawla im Irak, 80 Kilometer nördlich von Bagdad gelegen, einige Tage später. Peshmerga kontrollieren die Stadt, seit der IS 2014 vertrieben wurde. Die Einwohner sind in den vergangenen zwei Jahren wieder zurückgekehrt. Auch hier wird in der nächsten Woche über die kurdische Unabhängigkeit ­abgestimmt. Das dürfte die Stadt plötzlich wieder an die Front katapultieren. Denn in der Nachbarstadt sitzen die irakische Armee und schiitische Milizen. Die haben angekündigt, das Referendum nicht zu akzeptieren. »Inshallah geht alles gut«, schreibt er.