Eine Kritik des Verhältniswahlrechts

Weniger ist mehr

Das Mehrheitswahlrecht gilt vielen Linken als undemokratisch oder zumindest unfair. Doch in der Zwischenkriegszeit ermöglichte das Verhältniswahlrecht den Einzug der Faschisten in die Parlamente. Schon Hannah Arendt machte sich darüber Gedanken.

Es gibt unzählige gute Gründe, nicht zur Wahl zu gehen. Einer davon ist gerade jener, der immer wieder für die Beteiligung an der Wahl angeführt wird – in einer etwas älteren Formulierung der Süddeutschen Zeitung: »Wenn Sie etwa verhindern wollen, dass die NPD Geld vom Staat bekommt, dann müssen Sie auf jeden Fall wählen gehen. Dabei ist es fast egal, was sie wählen (außer eben die Rechtsextremen).« Wählen als Gegenwahl sei also antifaschistische Bürgerpflicht. Gerade diese Einstellung verweist aber auf eine Kritik des Wahlsystem selbst.
Erwartet wird für 2017 der größte Bundestag aller Zeiten. Verantwortlich dafür sind sowohl die gescheiterte Reform des Wahlrechts als auch das Urteil des Verfassungsgerichts, nach dem ein negatives Stimmgewicht, wie es sich aus Überhangmandaten ergeben kann, verfassungswidrig sei. Aufgrund der 2013 eingeführten Ausgleichsmandate ist nun vor der Wahl nie klar, wie viele Sitze es letztlich geben wird. Des Weiteren wird es – sofern die Prognosen auch nur ansatzweise stimmen – zum ersten Mal seit 1957 wieder sechs Parteien im Bundestag geben (sieben, wenn man CDU und CSU separat zählt). Das Neue jedoch ist, dass die vier kleineren Parteien eben nicht wirklich klein sind, sondern alle bei rund zehn Prozent (jeweils um die 50 bis 60 Sitze) liegen und somit eine Große Koalition erzwingen werden. Die Arbeitsfähigkeit des neuen Parlaments wird jetzt schon bezweifelt. Es gibt wieder ein wirkliches Vielparteiensystem, wie es schon Hannah Arendt kritisierte.

Statistische Vorstellung von Gerechtigkeit

In »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« konnte die überzeugte Räterepublikanerin und energische Kritikerin der repräsentativen Demokratie im Zweifelsfall dem angelsächsischen Zweiparteiensystem mehr abgewinnen als dem kontinentalen Vielparteiensystem. Auch für sie waren weder das Vereinigte Königreich noch die Vereinigten Staaten das Ideal, aber zumindest galten sie ihr als Leuchttürme dessen, was man »Westen« nennen könnte. Arendt ging es vor allem um die »Funktion der Partei im politischen Gesamtkörper«, wobei in England oder den USA »eine der Parteien immer identisch mit der Regierung« ist. Sie betont aber auch, dass diese Praxis, in der eine der Parteien »temporär zum Staat« wird, in deutschen Landen »nur in Form einer Diktatur auftreten kann«, denn es fehle hier nicht nur eine überparteiliche Instanz wie die Königin oder eine akzeptierte Verfassung, die den Übergang verbürgt, sondern in der Regel auch eine ernsthafte Opposition, bestehend aus Parteien, die auch wirklich regieren wollen.

Die Deutschen versumpfen eher zwischen Langzeitkanzlern, einem Grundgesetz, das sie für oktroyiert halten und einem Bundespräsidenten, den man nur mit viel Phantasie als gewählt betrachten kann. Nun kann man kein Zweiparteiensystem verordnen, sondern nur begünstigende Wahlsysteme etablieren. Damit wäre in erster Linie das relative Mehrheitswahlrecht gemeint, das den Deutschen als ungerecht oder gar undemokratisch gilt, da es die ebenso typisch deutsche statistische Vorstellung von Gerechtigkeit, also Anerkennung unabhängig vom effektiven Einfluss einer Partei, nicht respektiert.

Arendts historische Betrachtungen bleiben auch richtig in Hinblick auf das Wahlsystem. Nahezu alle faschistischen Parteien sind in Europa durch das in der Zwischenkriegszeit neu eingeführte Verhältniswahlrecht oder den Übergang zu diesem in die Parlamente eingezogen. Nun muss man zugeben, dass ein Mehrheitswahlrecht die NSDAP in den entscheidenden Wahlen (seit Juli 1932) nicht mehr aufgehalten hätte. Noch 1930 jedoch hätte die ­NSDAP nur Ostpreußen, den schwächsten aller Wahlkreise, für sich gewonnen.
Der direkte Beitrag des Verhältniswahlrechts zum Erfolg der Faschisten mag umstritten sein; begünstigend war es allemal, da es die hierzulande ohnehin mangelhafte poli­tische Kultur dermaßen zerstörte, dass durch Wahlen nichts mehr zu retten war. Die meisten postfaschis­tischen Länder knüpften munter in verschiedenem Grade wieder an das Verhältniswahlrecht an. Die Bundeszentrale für politische Bildung propagiert dies so: »Es ist offensichtlich, dass die Verhältniswahl eher die Kriterien der Gerechtigkeit erfüllt, während die Mehrheitswahl die Funktionalität fördert. (…) Es wäre dogmatisch und kurzsichtig, die Wahlsysteme auf die reine Verhältniswahl à la Weimar und die relative Mehrheitswahl à la Großbritannien zu verkürzen. (…) Das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland versucht, einen Ausgleich der beiden Positionen zu erreichen.«

Während in Zweiparteiensystemen die Interessenskämpfe stärker in den Parteien ausgetragen werden, ­bilden sich in Deutschland wieder schwammige, vorgeblich antifaschis­tische Gegenmajoritäten, die unter ­einem scheinhaften Konsens die Desintegration der Gesellschaft voran­treiben.

Die personalisierte Verhältniswahl ist nicht wirklich ein Mischsystem, denn das »Personalisierte« ist wie die Fünfprozenthürde eher kosmetischer Natur, es soll das »Wehrhafte« der neuen Demokratie versinnbildlichen. Dabei trifft es sich gut, dass über die Hälfte der Deutschen das Wahlsystem nicht versteht, den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme nicht kennt und meint, die erstere sei bedeutender als die letztere. Wohingegen die Zweitstimme rechnerisch wichtiger ist: »Maßgebliches Element für die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages ist bei dem gewählten Mischsystem – bedingt durch die Anrechnung der Direktman­date – das Verhältniswahlrecht«, meint der Bundeswahlleiter.

Um dies zu veranschaulichen, »stehle« man einfach einmal die Zweitstimmen der letzten Wahl. Von den 299 Sitzen im Bundestag nach Erststimmen gingen 2013 191 an die CDU, 45 an die CSU, 58 an die SPD, vier an die Linke und ­einer an die Grünen. Das würde der Union eine Mehrheit von 236 Sitzen oder fast 79 Prozent verschaffen – wobei die CDU mit 64 Prozent ihre trachtentragende Schwester aus den alpinen Tälern überhaupt nicht bräuchte. Die SPD verlor seit 2002 113 Direktmandate. Zu erwähnen ist auch, dass es bis auf einen einzigen Sitz (1990) seit 1961 keine FDP im Bundestag mehr gegeben hätte, weshalb gerade diese Partei sich über Jahrzehnte erfolgreich gegen eine Reform des Wahlrechts gewehrt hat.

Mehrheitswahlrecht oder Barbarei.

Das ist natürlich nur ein Gedankenspiel, denn unter einem anderen Wahlsystem wäre der Wahlkampf anders verlaufen. Aber auch die AfD beispielsweise dürfte 2017 kaum Direktmandate erringen. Die Einführung eines Mehrheitswahlrechts wäre weniger entscheidend für die Kanzlerschaft als vielmehr für die regierende Koalition. Eben diese treten im first-past-the-post-System der relativen Mehrheitswahl nicht oder nur äußerst selten auf. Eben dies ist auch bedeutsam für das US-amerikanische System von checks and balances.

Das relative Mehrheitswahlrecht wäre ein kleiner Baustein, keine Patentlösung für alle Probleme. Aber Arendt ist zuzustimmen in ihrer Diagnose, dass die Parteien einer Koalitionsregierung ihre Verantwortung für Entscheidungen abwälzen (Agenda 2010) und dass kleine Parteien, die eine sehr spezielle Klientel vertreten, viel anfälliger sind für welterklärende Ideologien, mit denen sie ihre Partikularität zu übertünchen versuchen. Heraus kommen »diese verlogenen Kombinationen engster Interessen und allgemeinster Weltanschauungen«, so Arendt.

So zeigt sich das endgültige und wohlverdiente Ende der SPD nicht zuletzt daran, dass sie 2013 ihren 150. Geburtstag als »Deutschlandfest« zelebrierte. Während in Zweiparteiensystemen die Interessenskämpfe stärker in den Parteien ausgetragen werden, ­bilden sich in Deutschland wieder schwammige, vorgeblich antifaschis­tische Gegenmajoritäten, die unter ­einem scheinhaften Konsens die Desintegration der Gesellschaft voran­treiben.
In Deutschland nimmt man die Dysfunktionalität in Kauf, wenn wenigstens alle Minoritäten ihren fairen ­Anteil am Elend haben. In England und den USA wählt man Menschen, die ­Mitglieder einer Partei sind, in Deutschland hingegen Parteien, die leider aus Menschen bestehen. Die Abgeordneten sind zwar nur ihrem Gewissen und nicht ihrer Partei verantwortlich, aber kaum jemand weiß, wie dieses Gewissen jeweils tickt, geschweige denn, wen man von der Liste eigentlich in den Bundestag wählen würde, ginge man wählen. Die oft geschmähten angelsächsischen Prinzipien von Pragmatismus und Individualismus wären endlich als Maßstäbe einer antideutschen Staatsbürgerkunde zu etablieren.

Statt zu überlegen, ob die Grünen, die Linkspartei oder andere Spaßparteien das kleinere Übel gegen die AfD seien, wäre realpolitisch mittelfristig eher zu diagnostizieren: Reform zum Mehrheitswahlrecht oder Barbarei. Vermutlich ist es dafür aber eh schon zu spät.