Frauenrechte sind Bürgerrechte

Alles, was Recht ist

In Tunesien sollen Frauen künftig mehr Rechte bekommen.

Es sei eine zweite Revolution in der arabischen Welt, die sich da anbahne, schrieb der algerische Schriftsteller Kamel Daoud. Der tunesische Präsident Beji Caid Essebsi hatte jüngst in einer Rede gefordert, dass es fortan in seinem Land muslimischen Frauen gestattet sein müsse, auch nichtmuslimische Männer zu heiraten. Zudem müssten sie im Erbrecht gleichberechtigt behandelt werden. Was aus westlicher Sicht wie eine kleine Reform erscheinen mag, ist in der Tat ein geradezu revolutionärer Schritt: Sollte das Parlament in Tunis entsprechende Gesetze verabschieden, wären die Tunesier die Ersten in der arabischen Welt, die sich als Staatsbürger im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes bezeichnen könnten. Denn bislang gelten überall in der Region im Ehe- und Zivilrecht unterschiedliche Bestimmungen für Frauen und Männer, Muslime und Nichtmuslime, Schiiten und Anhänger der verschiedenen sunni­tischen Rechtsschulen.

Selbst in Tunesien, wo der erste Präsident Habib Bourguiba in den fünfziger Jahren tiefgreifende Reformen in Gang setzte und etwa die Polygamie abschaffte, traute sich die Regierung bislang nicht, die nun von Essebsi kritisierten Überreste islamischen Rechts abzuschaffen.
Geschlecht und religiöse Herkunft spielen bislang in arabischen Ländern oft sogar eine weit größere Rolle für das Leben des Einzelnen als die Staatsangehörigkeit. Überall gelten nämlich im Zivilrecht immer noch Bestimmungen der Scharia, des islamischen Rechts, das, anders als das bürgerliche Recht, konkret ist. Es kennt abstrakte Gleichheit nur vor Gott, nicht aber vor dem Gesetzgeber. Deshalb lautete eine der wichtigsten Forderungen nordafrikanischer Frauenorganisationen auch »one law for all«: ein Gesetz, das für alle Geltung hat und vor dem alle, unabhängig von Herkunft und Geschlecht, gleich sind. Essebsi hat sich dieser Forderung nun angeschlossen. Entsprechend begeistert reagierten Bürger- und Frauenrechtler in der Region, während etwa die islamische al-Azhar-Universität die Forderungen umgehend als unislamisch verdammte.

Die Scheichs von al-Azhar haben sehr wohl verstanden, was auf dem Spiel steht: Nationalstaaten, in denen Bürgerinnen und Bürger von Gesetzen und Gerichten als abstrakt Gleiche behandelt werden, sind in der Tat im Sinne der bisherigen Auslegung der Scharia unislamisch. Der Kampf um citizenship aber stand im Zentrum des »arabischen Frühlings«. Es ging dem nichtreligiösen Teil der Protestbewegung darum, sich vom Untertanen zum Bürger zu entwickeln. Der Kampf um rechtliche Gleichheit, der sich immer wieder an der Stellung von Frauen in islamischen Gesellschaften entzündet, zielt deshalb auf viel mehr als die Gleichstellung der Geschlechter. Es geht um die Frage, ob es gelingt, die Bestimmungen islamischen Rechts zu überwinden. Schließlich lebt in Tunesien nur noch eine verschwindend kleine Minderheit von Nichtmuslimen. Auch Essebsi weiß, dass die Aufhebung des Heiratsverbots in der Praxis kaum Auswirkungen haben wird, dafür aber eine umso größere symbolische Bedeutung. Erstaunlicherweise unterstützt die oberste Fatwa-Behörde Tunesiens, ganz anders als die al-Azhar-Universität, seine Initiative und zeigt sich damit reformwillig. Tunesien steht allerdings erst am Anfang einer langen Auseinandersetzung um das Verhältnis von Religion und Staat, die sich überall in der Region auftut. Denn eines ist sicher: Keine andere Regierung in der Region wird bereit sein, dem tunesischen Vorbild zu folgen. Ganz im Gegenteil regt sich überall heftiger Widerstand. Auch in Tunesien selbst, wo etwa praktizierte Homosexualität weiterhin strafbar ist, wird ein solch radikaler Schritt keineswegs nur auf Zustimmung stoßen.