Das gedankenlose Gedenken am 9. November

Auf beiden Augen blöd

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Was haben die Deutsche Bahn (DB) und die Bewegung »Boykott, Desinvestition und Sanktionen«, kurz BDS, gemein? Beide berufen sich auf die deutsche Geschichte vor 1945 und rechtfertigen damit ihr Handeln. Die DB kam auf die Idee, einen ihrer 25 neuen ICE-Züge nach Anne Frank zu benennen. Doch nicht etwa, weil sich die DB nun endlich ernsthaft mit der unrühmlichen Rolle ihres Vorgän­ger­unternehmens Deutsche Reichsbahn als Erfüllungsgehilfin der Nationalsozialisten auseinandersetzen will.

Nein, die 1945 in einem KZ ermordete Jüdin vereine mit den anderen potentiellen Namenspatronen der Züge – genannt wurden unter anderem Loriot, Marlene Dietrich und Albert Einstein – eine bestimmte Sache, so die Jury, die über die Auswahl entschied: »Sie waren neugierig auf die Welt.« Das mag vielleicht stimmen, doch hat die Bahn Anne Frank nicht wirklich dabei geholfen, die Welt zu entdecken, sondern sie in den sicheren Tod befördert. Entsprechend groß war der Shitstorm, den sich das Unternehmen einhandelte. »Es ist in keiner Weise beabsichtigt, das Andenken Anne Franks zu beschädigen«, hieß es in einer Stellungnahme der Bahn. »Vielmehr hat die DB im Bewusstsein um ihre historische Verantwortung entschieden, die Erinnerung an Anne Frank wachzuhalten.« Da waren sie wieder, die drei buzzwords »Bewusstsein«, »Verantwortung« und »Erinnerung«, die offensichtlich nicht fehlen dürfen, wenn das große Vergessen Realität werden soll und Gedankenlosigkeit als gute Absicht verkauft wird.

Wie bei BDS, deren Berliner Gruppe anlässlich des »weltweiten Aktionstags für eine Welt ohne Mauern« ihre Anhänger zu einer Kundgebung auf dem Potsdamer Platz zusammenruft – und das ausgerechnet am 9. November, dem Jahrestag der Pogromnacht von 1938, einem Wendepunkt der NS-Politik gegen Juden, vom Boykott jüdischer Geschäfte hin zur systematischen Verfolgung.

Aber das interessiert die Boykotteure des jüdischen Staats nicht wirklich. Denn auch sie sind im Auftrag einer höheren Moral unterwegs und deshalb mit Vorsatz und Ansage betriebsblind: »Verantwortungsvoller Umgang mit unserer Geschichte bedeutet für uns, sich dieser die palästinensischen Grundrechte missachtenden Zusammenarbeit (zwischen Deutschland und Israel, Anmerkung der Redaktion) zu widersetzen. Das ist eine für uns maßgebliche Schlussfolgerung aus der deutschen Geschichte«, heißt es in einem ihrer Aufrufe. Weil Kontexte und Tatsachen niemanden bei BDS interessieren, holt man sich mit Verlon M. Jose noch den stellvertretenden Vorsitzenden des amerikanischen Stammes der Tohono O’odham dazu, weil in dessen Sprache das Wort »Mauer« nicht existiere. Die Wörter »Selbstmordbomber« und »Gaskammer« vermutlich auch nicht – egal, Hauptsache, alles wird in einen Topf gerührt.

Dafür, dass nicht nur die »Apartheid-Mauer« existiere, sondern auch in zahlreichen anderen Ländern Sperranlagen dieser Art entstanden seien, dafür haben die Mitglieder von BDS schon einen Schuldigen ausgemacht: »Israel hat ganz entschieden dazu beigetragen, dass es zu dieser neuen weltweiten Ära der Mauern gekommen ist.« Kurzum: Der Jude ist schuld! Auch am 9. November in Berlin wird man das wieder hören. Selbstverständlich mit guter Absicht.