Die Zahl antisemitischer Delikte nimmt in Deutschland wieder zu

Umfassendes Staatsversagen

Der Staat versagt bei der Prävention und Bekämpfung von Antisemitismus auf ganzer Linie.
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Der Antisemitismus, von dem man weiß, dass er nie verschwunden ist, wird in Deutschland fast so regelmäßig gemessen wie das Bruttoinlandsprodukt. Alle zwei Jahre stellen Meinungsforscher Ergebnisse vor, aus denen hervorgehen soll, wie antisemitisch es zur Zeit in den Köpfen der Deutschen zugeht. Zwei Mal im Jahr zeigt zudem die polizeiliche Kriminalstatistik, wie sich diese Einstellungen in Straftaten manifestieren. Im ersten Halbjahr 2017 wurden nach Angaben des Bundesinnenministeriums 681 antisemitische und antiisraelische Delikte erfasst, also knapp vier Taten am Tag. Das sind vier Prozent mehr als im ersten Halbjahr 2016. Auch bei antisemitischen Gewaltdelikten ist ein leichter Zuwachs festzustellen.

Die Zahl antisemitischer Straftaten nimmt zu, das stimmt. Allerdings ist auf die offiziellen Zahlen wenig Verlass. Viele Delikte werden nicht zur Anzeige gebracht, es gibt eine hohe Dunkelziffer. Opfer von Antisemitismus haben häufig kein Vertrauen in die staatlichen Institutionen. Weniger als die Hälfte der Fälle wird aufgeklärt. Wird ein Täter nicht zufällig auf frischer Tat ertappt, werden die meisten Verfahren nach einigen Wochen eingestellt. Wenn es konkrete Tatverdächtige gibt und ein Strafverfahren zustande kommt, müssen Opfer antisemitischer Straftaten befürchten, dass ihre persönlichen Daten im Zuge des Verfahrens den Tätern in die Hände fallen. Dadurch könnten sie erneut zur Zielscheibe werden. In aller Regel können sie nicht auf Schutz durch den Staat hoffen.

Man könnte meinen, in 70 Jahren bundesdeutscher Geschichte hätte man sich zumindest darüber verständigen können, was Antisemitismus überhaupt ist. Doch immer noch gibt es nicht einmal eine einheitliche Definition

Die Fälle, die in die Statistik eingehen, wecken ebenfalls nicht gerade Vertrauen in die Kompetenz des Staats. Wenn etwa »Juden raus« oder ein Hakenkreuz an eine Synagoge gesprüht wird, taucht, sofern nichts anderes über den Täter oder die Tat bekannt ist, die Tat in der Statistik als »Politisch motivierte Kriminalität – rechts« auf. Dass nicht nur Rechte eine solche Tat begangen haben könnten, sondern etwa auch Islamisten, kommt den Behörden nicht in den Sinn. Auch Gerichte stellen regelmäßig ihre Inkompetenz zur Schau. So wurde etwa der NPD-Politiker Hans Püschel, der die Shoah als »Mythos« und »Mär« bezeichnet hatte, im vergangenen Jahr vom Oberlandesgericht Naumburg freigesprochen. Das Amtsgericht Wuppertal wollte nicht einmal Antisemitismus erkennen, als drei Palästinenser 2014 Molotow-Cocktails auf eine Synagoge geworfen hatten. Die Angeklagten hätten mit dem Wurf der Brandsätze lediglich auf den Gaza-Krieg hinweisen wollen, so das Gericht.

Ein Dreivierteljahrhundert nach Auschwitz muss ein umfassendes Staatsversagen im Kampf gegen Antisemitismus konstatiert werden. Man könnte meinen, in 70 Jahren bundesdeutscher Geschichte hätte man sich zumindest darüber verständigen können, was Antisemitismus überhaupt ist. Doch immer noch gibt es nicht einmal eine einheitliche Definition. Im Jahr 2008 beauftragte der Deutsche Bundestag einen »Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus«, einen Bericht zum Thema vorzulegen. 2012 stellte der Arbeitskreis seinen Bericht vor. Darin fanden sich Empfehlungen an die Bundesregierung, wie sie besser gegen Antisemitismus vorgehen könnte. Befolgt wurden diese kaum. Stattdessen wurde 2015 ein neuer Expertenkreis einberufen, der Anfang 2017 seinen Bericht vorstellte. Wieder gab es Empfehlungen, doch ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl wollte man das Thema nicht angehen. Das sei eine Aufgabe für die nächste Bundesregierung, hieß es damals. Seit der Bundestagswahl hört man von den Parteien nichts mehr zum Antisemitismus. Man kann darauf wetten, dass die nächste Regierung, vor deren Bildung die womöglich noch einmal gewählt werden muss, sich mindestens auf einen neuen Arbeitskreis einigen kann, wenn nicht sogar auf zwei. Allerdings muss man wohl sagen: Den Antisemitismus in seinem Lauf hält weder Staat noch Experte auf.