Tlatelolco wirkt nach
Die Olympischen Spiele fanden 1968 in Mexiko statt. In dem Land gilt jedoch keineswegs die triumphierende und widerständige »Black Power«-Geste der beiden schwarzen Athleten und Medaillengewinner Tommie Smith und John Wesley Carlos als das wichtigste Ereignis des Jahres, ebenso wenig wie die Solidarisierung des weißen Sprinters Peter Norman mit diesen. Vielmehr wird mehrere Jahrzehnte danach jeden 2. Oktober des staatlich geplanten und von der Armee verübten Massakers an protestierenden Studierenden im Stadtteil Tlatelolco in Mexiko-Stadt gedacht. Vollständig aufgeklärt wurden die Ereignisse nicht, weswegen die Angaben zu den Opferzahlen von 20 (so die mexikanische Regierung) bis 300 (so die britische BBC) variieren.
Wie in anderen Ländern häuften sich 1968 in Mexiko Proteste dissidenter Bewegungen. Diese forderten politische Rechte, eine Demokratisierung und Liberalisierung der Gesellschaft, höhere Löhne und eine konsequentere Landreform zugunsten Millionen landloser Bäuerinnen und Bauern. Die studentischen Proteste wurden stärker, je näher die Olympischen Spiele rückten.
»Wir wussten, dass irgendwann etwas Schreckliches passieren würde«, berichtet fast ein halbes Jahrhundert später Gloria Luz Rascón Martínez der Jungle World. Die 71jährige Psychologin und Butoh-Tänzerin konnte an der Demonstration auf dem Platz der Drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco nicht teilnehmen. Sie traf sich stattdessen mit Gleichgesinnten, um über einen möglichen Einfall der Armee auf das Gelände der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) zu diskutieren. Die Armee hatte zwei Wochen zuvor schon einmal das Autonomierecht der Universität verletzt. Am Nachmittag des 2. Oktober seien Informationen über die Geschehnisse nur zeitlich verzögert, verzerrt und unvollständig eingetroffen, erinnert sich Rascón: »Wir alle bekamen Panik. Wir versteckten uns.«
Paramilitärs, Soldaten und Studenten
Perfide inszeniert feuerte die paramilitärische Truppe Olympia-Bataillon vom Wohngebäude Chihuahua aus auf die Soldaten, die den Studierenden gegenüberstanden. Diese erwiderten das Feuer, schossen aber wahllos in die protestierende Menge. Die staatliche Maschinerie funktionierte gut. Am folgenden Tag verteidigten die Medien unisono das harsche Vorgehen des Staatspräsidenten Gustavo Díaz Ordaz: Er sei regelrecht dazu gezwungen worden. Die unsichere Situation so knapp vor den Olympischen Spielen habe es ihm abverlangt. Die Studierenden wurden inmitten des internationalen antikommunistischen Kampfes zum gesellschaftlichen Feindbild erklärt.
Staat, Regierung und viele organisierte gesellschaftliche Sektoren dominierte damals – und noch weitere Jahrzehnte lang – die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI). Diese sah sich als Verkörperung des Erbes der Mexikanischen Revolution der Jahre 1910 bis 1917. Zeitweise war der PRI die größte Massenorganisation der westlichen Hemisphäre: 1985 zählte sie über 15 Millionen Mitglieder – die Hälfte aller Wahlberechtigten Mexikos. Nicht wenige Mitgliedschaften wurden erzwungen oder waren den Betroffenen unbekannt.
Schmutzige Krieg gegen linke Guerillagruppen
Luis Echeverría, der Innenminister unter Díaz Ordaz und spätere Präsident, kündigte 1970 eine »demokratische Öffnung« an. Sie wurde nur bedingt vollzogen. Stattdessen kam es an Fronleichnam 1971 in Mexiko-Stadt zu einem erneuten Massaker an Studierenden. Der gegen linke Guerillagruppen und Oppositionelle gerichtete sogenannte Schmutzige Krieg – ein kritisch gemeinter Begriff, der jedoch konventionellen Krieg für »sauber« erklärt – dauerte bis in die achtziger Jahre an. Gemeint sind damit systematische Inhaftierungen, unzählige außergerichtliche Hinrichtungen, Folter und gewaltsames Verschwindenlassen unter der Verantwortung des mexikanischen Staats.
In jener Phase kam es zur Gründung mehrerer linksgerichteter bewaffneter und unbewaffneter klandestiner Organisationen, die gegen den autoritären Staat kämpften. Für viele junge Menschen sei damals klar gewesen, dass man »mit der Regierung keinen Dialog führen kann«, sagt Jorge Gálvez der Jungle World. Er ist Direktor des Museo de la Memoria Indómita (Museum der unzähmbaren Erinnerung) und Mitbegründer des Menschenrechts- und Verschwundenenkomitees Eureka in Mexiko-Stadt, das sich 1977 gründete. Eureka beziffert die Zahl der gewaltsam Verschwundenen zur Zeit des »Schmutzigen Kriegs« auf 557. Von ihnen konnten 148 gefunden werden.
Verantwortliche Staatsdiener von damals sind auch heutzutage noch in den Medien präsent und politisch tätig. Gálvez schreibt einem von ihnen eine besondere Schuld zu: Manlio Fabio Beltrones, der von 2015 bis 2016 Vorsitzender des PRI war. »Er kennt den Aufenthalt aller unserer Verhafteten und Verschwundenen, denn das war seine Arbeit. Sein Rang als Untersekretär der Regierung und Zuständiger für Menschenrechte veranlasste ihn dazu, alles wissen zu müssen.«
Für Gloria Rascón, deren Sohn Manuel indigene Philosophie an der UNAM lehrt, war 1968 der Anlass, das individuelle und gesellschaftliche Leben anders zu gestalten: »Ich wollte mich niemals einer traditionellen Beziehung unterwerfen, sondern wollte frei und autonom sein.« Sowohl sie als auch viele jüngere Menschen begreifen das Massaker von Tlatelolco als Teil der eigenen Geschichte. Dies betrifft auch die Studierenden an den ländlichen Lehramtsschulen, die es überall in Mexiko gibt und die sich damals auf verschiedenste Weise an den Protesten beteiligten.
Weil viele Studierende aus armen Verhältnissen kommen und die Schulen selbst nicht über ausreichend Geld verfügen, kaperte am 26. September 2014 eine Gruppe von Studenten der Lehramtsschule Raúl Isidro Burgos aus Ayotzinapa in der Kleinstadt Iguala mehrere Reisebusse. Sie wollten zur Gedenkveranstaltung am 2. Oktober anlässlich des Massakers von Tlatelolco in die Hauptstadt fahren und die Busse danach wieder zurückzugeben – für mexikanische Proteste nicht ungewöhnlich. Das wurde ihnen zum Verhängnis, und Ayotzinapa weltweit bekannt: In der Nacht auf den 27. September 2014 wurden in einem konzertierten Vorgehen verschiedener staatlicher Akteure und des organisierten Verbrechens 43 der protestierenden Studenten verschleppt und vermutlich ermordet, sechs weitere Menschen wurden vor Ort erschossen. Seither kämpfen politische Organisationen mit internationaler Unterstützung um die vollständige Aufklärung dieses Verbrechens.
1968: Bruch mit alten Ansätzen
Omar García Velásquez überlebte damals den Angriff und konnte fliehen. Im Gespräch mit der Jungle World verweist er auf Parallelen von 1968 und 2014: »Die Repression ist ähnlich in Bezug auf die Rolle des Staats und die Streitkräfte. Bei der Suche nach unseren Genossen haben wir immer auf die mexikanische Armee verwiesen. Nur sie hat die Infrastruktur, um eine Operation dieses Ausmaßes durchzuführen.« Aber das Verteidigungsministerium verweigert eine Untersuchung des bei Iguala stationierten 27. Infanteriebataillons. »Wir glauben, dass der, der nichts verschuldet hat, nichts zu fürchten hat«, sagt García Velásquez.
Das Verbrechen von Ayotzinapa reiht sich in eine lange Liste von Verbrechen ein, die nie aufgeklärt wurden und deren Verantwortliche daher auch straffrei bleiben. Vor fast 50 Jahren erklärte sich Präsident Díaz Ordaz öffentlich verantwortlich für das Massaker von Tlatelolco. Verurteilt wurde er nie. Genauso wenig sein damaliger Innenminister Luis Echeverría.
In Mexiko gilt 1968 auch als Bruch mit alten Ansätzen. Die damaligen Forderungen wurden zwar nicht erfüllt, aber auch nicht vergessen. Schließlich führte der gesellschaftliche Aufbruch im Jahr 1983 zur Gründung und 1994 zum bewaffneten Aufstand einer Organisation, die sich von vorhergehenden deutlich unterschied: Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) veränderte auf nationaler und internationaler Ebene die politische Szenerie.