Susanne Schröter, Ethnologin und Islamexpertin, im Gespräch über Anhängerinnen des »Islamischen Staats«, die nach Deutschland zurückkehren

»Angst vor der Freiheit«

Die Rückkehr von Anhängerinnen des »Islamischen Staats« (IS) aus dem Irak und Syrien nach Deutschland ist nicht nur ein Sicherheitsproblem, sagt die Ethnologin und Islamexpertin Susanne Schröter. Gewaltprävention müsse bei der salafistischen Ideologie ansetzen, damit aus Rückkehrerinnen Aussteigerinnen werden.
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Mit welchen Absichten kehren Frauen aus dem Jihad nach Deutschland zurück?
Entsprechend der vielfältigen Motivlage von Frauen, sich dem Jihad ­anzuschließen, ist auch die Haltung bei der Rückkehr ganz unterschiedlich. Einige sind vom erlebten Alltag im IS-Gebiet ernüchtert und betrachten ihre Entscheidung auszureisen als Fehler; andere stehen nach wie vor zu den Zielen der Organisation und werden nach ihrer Rückkehr versuchen, entsprechend zu handeln, möglicherweise Anschläge mitorganisieren oder selbst durchführen. Eine dritte Gruppe ist vom IS enttäuscht, hält aber am Ziel des Aufbaus einer islamistischen ­Gesellschaft fest.

 

Welche Strategie verfolgt der IS damit?
Die Rückkehr der Frauen ist schlicht der militärischen Niederlage des IS geschuldet. Einige sind der Gefangennahme durch rechtzeitige Rückreise entgangen, andere wurden gefangengenommen und möchten natürlich lieber nach Deutschland ausgeliefert werden, als in einem syrischen oder irakischen Gefangenenlager zu sitzen.

 

Linda W. ist das bekannteste deutsche »IS-Mädchen«. Die junge Frau aus Sachsen, die im Irak in Haft sitzt, scheint alle Jihadisten-Klischees zu widerlegen. Was ist an ihrer Geschichte typisch, was nicht?
Linda W. ist Konvertitin und stammt aus bürgerlichen Verhältnissen in Ostdeutschland. Das widerspricht der häufig geäußerten These, Jihadistinnen und Jihadisten kämen aus prekären sozialen Verhältnissen und seien als Muslime diskriminiert worden. Das trifft für einige, beileibe aber nicht für alle zu. Der Fall Linda W. zeigt, dass es viele Gründe gibt, sich einer jihadistischen Gruppe anzuschließen. Meiner Meinung nach ist die ideologische Indoktrinierung sehr viel wichtiger als das soziale Umfeld, das natürlich eine Rolle spielen kann, aber nicht spielen muss. Typisch auch für andere IS-Anhängerinnen ist die Rolle des Internets für die Rekrutierung und die Kommunikation innerhalb des IS-Netzwerks. Auch Lindas Alter ist typisch. Der IS hat dezidiert versucht, sehr junge Frauen anzuwerben, teilweise mit einer speziell auf Teenager zugeschnittenen Kampagne, in der die Romantik im Mittelpunkt stand.

 

Frauen haben im salafistisch-jihadistischen Milieu viele wichtige Auf­gaben. Sie sind für den Aufbau und Erhalt der transnationalen Netzwerke unerlässlich, stiften Ehen innerhalb der Szene und arbeiten an einer salafistischen Gegenkultur.

 

Der Begriff der »Rückkehrerin« wirkt harmlos. In welche Milieus kehren die Frauen in Deutschland zurück?
Viele Rückreisende kehren in salafistische und jihadistische Milieus zurück, in die sie bereits vor der Ausreise eingebunden waren. Einige schließen sich neuen salafistischen Milieus an, weil sie dort mit offenen Armen aufgenommen und als Heldinnen gefeiert werden. Diejenigen, die sich von der Szene distanzieren, werden mehrheitlich in ihre Familien zurückkehren.

 

Der Verfassungsschutz warnt vor Anschlägen durch Rückkehrerinnen. Welche Gefahren gehen von den wieder eingereisten Frauen aus?
Frauen haben im salafistisch-jihadistischen Milieu viele wichtige Auf­gaben. Sie sind für den Aufbau und Erhalt der transnationalen Netzwerke unerlässlich, stiften Ehen innerhalb der Szene und arbeiten an einer salafistischen Gegenkultur. Dabei geht es um das Vertreiben von Konsumartikeln wie Bekleidung, Parfüm, religiöse Produkte oder Medikamente, um die Organisation von Veranstaltungen oder auch um Tätigkeiten in salafistischen Moscheen und Vereinen. Sie werben Gelder für salafistische und jihadistische Projekte, betreuen Strafgefangene, rekrutieren weibliche Mitglieder und kontrollieren die Befolgung salafistischer Normen innerhalb der Szene. Sie verbreiten die salafistische Ideologie in den sozialen Medien, schulen Mitglieder in sogenannten Aqida-Gruppen und indoktrinieren ihre Kinder.

 

Schon bei männlichen Rückkehrern fällt es der deutschen Justiz schwer, die konkrete Beteiligung an Kriegshandlungen nachzuweisen. Bei den Frauen dürfte die ­juristische Aufarbeitung noch schwieriger werden.
Das ist wirklich ein Problem. Da Jihadistinnen nur selten in der Öffentlichkeit agiert haben, wird es kaum möglich sein, belastbares Material für ein Verfahren zu bekommen. Die Vollverschleierung macht es zusätzlich schwer, Frauen zu identifizieren, falls sich keine Kronzeuginnen finden lassen.

 

Die Bundesanwaltschaft hat dennoch angekündigt, hart gegen nach Deutschland zurückkehrende Frauen aus Gebieten des IS ­vorzugehen, auch wenn sie nicht für die Terrormiliz gekämpft ­haben. Welche Aufgaben sind frauentypisch?
Die Frauen, die nach Syrien und in den Irak gegangen sind, um sich dem IS anzuschießen, waren oder sind von der Ideologie des IS überzeugt und wollten einen Beitrag zum sogenannten Kalifat des Abu Bakr al-Baghdadi leisten. Diese Unterstützung bestand in erster Linie darin, einen der Auslandskämpfer des IS zu heiraten und Kinder für den Jihad zu gebären. Einige Frauen übernahmen aber auch andere Funktionen und verdingten sich beispielsweise in den al-Khansaa-Brigaden von Raqqa, einer weiblichen Polizeieinheit, die an der Folterung von Frauen beteiligt war.
Der Überzeugungsgrad der IS-Anhängerinnen und ihre Motivation auszureisen waren recht unterschiedlich. Einige Motive sind genderspezifisch und entstammen einem salafistischen Gender-Ideal, andere sind genderunspezifisch. Zu den spezifisch weiblichen Motiven gehört der Wunsch, im »Kalifat« einen Helden zu heiraten und die verehrte Mutter heldenhafter Söhne zu werden. Sowohl männliche als auch weibliche Jihadisten wollten in einer sozialen Utopie leben, die sich an den Vorgaben des Korans und dem Vorbild der Muslime des 7. Jahrhunderts orientiert.

 

Salafistische Gender-Ordnung

 

Welche Berührung haben Teenager aus Deutschland mit diesem Vorbild des 7. Jahrhunderts?
Die Rolle von Frauen in dieser idealisierten Gesellschaft wurde ganz ­konkret in einer Broschüre der al-Khansaa-Brigaden in arabischer Sprache unter dem Titel »Frauen im islamischen Staat« propagiert. Darin wird sehr klar beschrieben, dass die Aufgabe von Frauen darin besteht, zu Hause zu bleiben, ihren Männern zu Diensten zu sein, Kinder zu gebären und diese in der Ideologie des IS zu erziehen. Ein solches Leben entspreche der weiblichen Natur und sei aus diesem Grund für Frauen erfüllend. Emanzipation dagegen degeneriere sowohl Frauen als auch Männer. Interessanterweise fühlen sich etliche junge Musliminnen und auch viele Konvertitinnen von dieser Gender-Asymmetrie angesprochen.

 

Was ist der besondere Reiz, der dieses Leben für junge Frauen ­attraktiv erscheinen lässt?
Salafismus und Jihadismus sind jenseitsorientierte Ideologien, die stets betonen, dass das irdische Leben nur eine Prüfung für das eigentliche ­Leben nach dem Tod darstellt. Der salafistischen Gender-Ordnung ­Folge zu leisten, das Haus nur noch in blickdichter Verschleierung und in Begleitung des Ehemannes oder eines männlichen Verwandten zu verlassen und viele andere Einschränkungen gelten als gottgefälliges ­Leben, das sich am Tag des Jüngsten Gerichts bezahlt macht. Diejenigen, die sich Gottes Normen unterwerfen, meinen größere Chancen zu haben, nach dem Tod ohne Umschweife ins Paradies zu gelangen. Nur vor diesem Hintergrund wird auch das die Idee eines eschatologischen Endkampfes zwischen Muslimen und Ungläubigen verständlich, von dem man glaubt, dass er mit dem welt­weiten Sieg des Islam enden werde. Dabei gilt es, aktiv auf der richtigen Seite zu stehen, denn eine Nichtbeteiligung könnte von Gott bestraft werden. Diese Beteiligung sieht für Männer und Frauen unterschiedlich aus: Männer sollen Kämpfer sein, Frauen Gebärerinnen von Kämpfern. Allerdings erodiert diese Unterscheidung zurzeit, weil sich die militärische Lage geändert hat.

 

Welche ideologischen Überzeugungen teilen Männer und ­Frauen?
Ein Motiv, das für Männer und Frauen gleichermaßen wirksam ist, ist der Wunsch etwas gegen die Kriege des Westens tun zu wollen, den ­Muslimen in Krisengebieten zur Seite zu stehen, sie zu beschützen oder gegebenenfalls zu rächen. Hier gibt es ein nachvollziehbares Moment der ­Kritik an Kriegen, die von westlichen Staaten in der islamischen Welt geführt werden, an Waffenlieferungen oder an der westlichen ­Doppelmoral, die nur die eigenen Toten zählt. ­Allerdings ist das anti­imperialistische Moment dieser Erzählung bestenfalls halbherzig, da alles, was am Westen kritisiert, bei jihadistischen ­Milizen akzeptiert wird und selbst die Versklavung, Vertreibung und Ausrottung von Minderheiten wie den Jeziden als legitim verteidigt wird.

 

Islamischer Friedenskongress

Besucher beim »1. Islamischen Friedenskongress«: Arbeit an einer salafistischen Gegenkultur

Bild:
mauritius images / Jochen Tack

 

Wie werden nun aus Rückkehrerinnen Aussteigerinnnen? Unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen kann Integration gelingen?
Es ist zunächst einmal unerlässlich, Jihadismus als Teil einer islamistischen Ideologie zu verstehen. Eine ausschließliche Delegitimierung von Gewalt bei gleichzeitiger Legitimierung des puristischen Salafismus oder anderer islamistischer Ideologien geht in die Irre. Auch die ­priorisierte Fokussierung auf Diskriminierungserfahrungen oder eine prekäre Lebenslage greift zu kurz.

 

Die Verhüllung wird als Zeichen eingesetzt. Sie gilt zudem als Mutprobe, da die Reaktionen von Passanten nicht ­immer freundlich sind. Diejenigen, die Selfies im öffentlichen Raum von sich machen und ins Netz stellen, können daher viele Freundinnen ­gewinnen und ihren Status aufbessern. In diesem Sinne ist der Niqab ein Kommunikationsmittel

 

Kann Sozialarbeit überhaupt etwas bewirken?
Nur dann, wenn sie selbst Zweifel an der Legitimität des IS haben, wären Rückkehrerinnen für Gespräche offen. Ich halte den Einsatz guter muslimischer Theologinnen für unerlässlich, um die salafistisch-jihadistische Ideologie zu entkräften. Druck braucht es insbesondere, um die Kinder vor weiteren Instrumentalisierungen zu bewahren.

 

Sehen Sie in den Moscheeverbände potentielle Partner? Und ist die Stärkung der Religion im Hinblick auf die Gesellschaft insgesamt überhaupt wünschenswert?
Wenn man sich anschaut, was Moscheeverbände unter Präventionsarbeit verstehen, dann ist dies sicherlich nicht förderlich. Es handelt sich mehrheitlich um religiöse Jugendarbeit, die die Grundlagen der patriarchalischen und teilweise auch islamistischen Ideologie reproduziert. Eine theologische Entzauberung der IS-Ideologie halte ich durchaus für wünschenswert, doch es gibt zurzeit kaum Personen, die dafür geeignet wären. Jedes Islamverständnis, das sich unkritisch am 7. Jahrhundert oder einer wortwörtlichen Auslegung des Korans orientiert, arbeitet dem Salafismus und letztlich auch dem Jihadismus in die Hände.

 

Projekte zur Gewaltprävention junger Muslime wie das Heroes-Konzept von Ahmad Mansour sind auf Männer und deren problematisches Rollen- und Ehrverständnis zugeschnitten. Welche besonderen Angebote brauchen Frauen?
Viele muslimische Frauen haben Angst vor der Freiheit. Da sie stärker kontrolliert und sanktioniert werden als Männer, haben sie de facto mehr zu verlieren. Sinnvoll wäre der Aufbau von Peer-Gruppen unter Leitung erfahrener Frauen, nach dem Vorbild von Heroes. Offene Gespräche untereinander wären ein Anfang.

 

Muslimische Frauen sind die ersten Opfer von religiös motivierter Gewalt, etwa durch Ehrenmorde, Beschneidung, Zwangsheirat und strenge  Bekleidungsvorschriften. Zugleich tradieren Frauen als Mütter und Ehefrauen patriarchale Strukturen und verteidigen sie gegen die liberale Gesellschaft. ­Werden muslimische Frauen zu sehr auf die Opferrolle festgelegt?
Frauen sind in jeder patriarchalischen Gesellschaft Opfer und Täterinnen. Ohne die Zustimmung oder das aktive Mitwirken eines Teils der Frauen lässt sich keine frauenunterdrückende Ordnung aufrechterhalten.

 

Die IS-Propaganda setzt die Heroisierung der Jihadistin gezielt ein, um Frauen zu rekrutieren. Welche Rolle spielt der Schleier in diesen Bildinszenierungen?
Salafistinnen haben nur wenige Möglichkeiten in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden, da sie »wie Perlen in der Muschel« vor neugierigen Blicken versteckt bleiben sollen. Nur in kompletter Verhüllung inklusive des Gesichtsschleiers können sie sich außer Haus bewegen, wenn sie die moralischen Grundsätze des Salafismus beherzigen. Da die Bildsprache allgemein verständlich ist, wird die Verhüllung als Zeichen eingesetzt. Sie gilt zudem als Mutprobe, da die Reaktionen von Passanten nicht ­immer freundlich sind. Diejenigen, die Selfies im öffentlichen Raum von sich machen und ins Netz stellen, können daher viele Freundinnen ­gewinnen und ihren Status aufbessern. In diesem Sinne ist der Niqab ein Kommunikationsmittel, ein Mittel, im internen Ranking der Gruppe aufzusteigen, und er ist natürlich auch subversiv, allerdings im Sinne einer totalitären, letztendlich sogar faschistoiden Ideologie. Dass Feministinnen Hijab- und Niqabträgerinnen zu Ikonen stilisieren, schadet nicht nur all den Frauen, die unter eine islamistische Ordnung gezwungen werden, sondern leistet einer menschenverachtenden Ideologie Vorschub.
 

 

Susanne Schröter ist Professorin für Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums ­Globaler Islam. Sie forscht über die Herausbildung moderner Geschlechterordnungen in der islamischen Welt. Zuletzt erschien von ihr im Campus-Verlag die Studie »Gott näher als der eigenen Halsschlagader. Fromme Muslime in Deutschland« (2016).