Die Protestierenden im Iran erwarten nichts mehr von den »Reformern«

Das Ende der Illusionen

Anders als deutsche Politiker erwarten die Protestierenden im Iran nichts mehr von sogenannten Reformern. Aber wie kann ein »regime change« aussehen?

Erfolgreiche Revolutionäre wissen unabhängig von ihren politischen Zielen, worauf es ankommt: Im entscheidenden Moment muss die Armee neutral bleiben oder sich auf die Seite der Aufständischen stellen.

Geschieht dies nicht, ist die Chance auf einen schnellen Machtwechsel vertan, aus der Revolu­tion wird dann ein langwieriger Guerilla- oder Bürgerkrieg. Man kann die Wehrpflichtigen agitieren, so dass sie ihren Offizieren den Gehorsam verweigern, wie es die Bolschewiki taten. Oder man kann eine Vereinbarung mit dem Offizierskorps treffen, wie es Ayatollah Khomeini Anfang 1979 gelang – allerdings wohl nur, weil es bereits zu zahlreichen Desertionen und Gehorsamsverweigerungen gekommen war.

Um das neue Regime gegen solche Unwägbarkeiten abzusichern, gründete Khomeini wenige Monate später die Pasdaran (Revolutionswächter) als Gegengewicht zur Armee. Ideologisch indoktriniert, materiell privilegiert und besser ausgerüstet als die reguläre Armee sind die Pasdaran ein zuverlässiger Schutz für das Regime. Dass sich die Militärführung Ägyptens 2011 neutral, zeitweise gar oppositionsfreundlich gab, lag wohl vor allem an der Sorge, die Wehrpflichtigen könnten einen Einsatz gegen die Massenproteste verweigern. Eine »klassische« Revolution durch Massenproteste und Generalstreik ist in Ägypten weiterhin möglich. Nicht so im Iran, wo immer noch die Pasdaran bereitstehen, wenn Polizisten und Wehrpflichtige an ihrer Gehorsamspflicht zweifeln.

Wer den regime change will, muss die Pasdaran besiegen. Vor allem deshalb zögern viele oppositionelle Ira­nerinnen und Iraner, sich an den Protesten zu beteiligen. Im Gespräch mit ausländischen Journalisten, die meist in der Mittelschicht recherchieren, bekunden sie ihre Angst vor einem Bürgerkrieg. Wie die Protestierenden hegen sie keine Illusionen über den Charakter des Regimes und dessen Reformierbarkeit.

Angesichts der Härte der Repression – mehr als 20 Menschen wurden getötet, Tausende inhaftiert – ist das Zögern verständlich. An der derzeitigen Protestwelle sind vor allem Menschen aus den ärmeren Schichten in den benachteiligten Provinzen beteiligt, die wenig zu verlieren haben. Sie rebellieren gegen die Verschlechterung ihrer sozialen Lage. Doch sehr schnell kamen politische Parolen auf. Das ist im Iran kaum zu vermeiden, denn die Ökonomie ist dort nicht nur politisch, sondern extrem politisiert.

Der Klientelismus ist kein Fehler im System. Er ist das System, die Organisationsform des Regimes – und zwar ­seine einzig mögliche.

Nach der Aufhebung der meisten Sanktionen infolge des Atomabkommens wuchs das Bruttoinlandsprodukt 2016 um 13,4 Prozent, da die Ölexporte immens stiegen. Überdies konnte das Regime nun über zuvor blockiertes Vermögen in Höhe von 100, vielleicht auch 150 Milliarden Dollar verfügen. Es war nicht zu erwarten, dass die Ayatollahs diesen Geldsegen freigebig an die Armen verteilen würden, wohl aber, dass sie irgendetwas tun würden, um die soziale Unzufriedenheit zu mildern. Stattdessen führten sie die Austeritäts- und Privatisierungspolitik fort. Der Haushaltsplan für das im März beginnende neue Jahr sieht erhebliche Kürzungen der Subventionen vor.

Der Grund dafür wird auf den Straßen des Iran nun wieder und wieder genannt. Das Regime investiert so viel in seine Auslandsinterventionen und in den Erhalt seines Klientelsystems, dass für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse nichts übrig bleibt. Vor­gesehen ist im Budget eine Steigerung der Militärausgaben um fast 20 Prozent. Die religiösen Institutionen sollen höhere Subventionen erhalten, obwohl die sogenannten Stiftungen der Geistlichkeit bereits eine Wirtschaftsmacht sind. Einflussreicher noch ist das ökonomische Imperium der Pasdaran, die Schätzungen zufolge etwa ein Drittel der iranischen Wirtschaft kontrollieren.

Die Folgen der Austeritäts- und Privatisierungspolitik werden dadurch erheblich verschärft. Dieses System als korrupt zu bezeichnen, greift zu kurz, obwohl die undurchsichtige Privilegierung von Klerikern und Pasdaran zur Bestechung und zum Austausch von Gefälligkeiten geradezu einlädt. Der Klientelismus ist kein Fehler im System. Er ist das System, die Organisationsform des Regimes – und zwar ­seine einzig mögliche. Es ist unerlässlich, die wichtigsten Säulen der Isla­mischen Republik, die Ideologieproduzenten im Klerus (der keineswegs geschlossen zum Regime steht) und die Pasdaran, auch materiell an das Herrschaftssystem zu binden. So wird auch verhindert, dass eine unabhängige Bourgeoisie oder eine einflussreiche Mittelschicht sich eine ökonomische Basis für oppositionelle Politik verschaffen, wie es dem Klerus unter dem Schah-Regime gelang. Zudem fördert das Klientelsystem die Anpassung.

 

Die Mehrheit der Iraner und Iranerinnen will nicht mehr

 

Dass die Parolen der Protestierenden sich gegen Präsident Hassan Rohani, das vermeintlich freundliche Gesicht der Diktatur, wie auch gegen den Obersten Führer Ali Khamenei richten, zeigt, dass sie von der Islamischen Republik nichts mehr erwarten. Manchen Experten zufolge haben islamistische Hardliner die ersten Proteste in Ma­sh­had initiiert, um Rohani unter Druck zu setzen. Gegründet ist diese These vor allem auf gegenseitige Schuldzuweisungen von Repräsentanten des Regimes. Sollte das der Fall gewesen sein, so war der Schritt eine folgenreiche Fehlkalkulation. Der Sozialpopulismus der Hardliner, die Ressentiments der frommen Armen gegen die Mittelschicht schüren wollen, trägt ebenso wenig wie das Versprechen der Reformer, bald würden Wohlstand und eine Lockerung der kulturellen Unterdrückung nun aber wirklich ganz bestimmt kommen.

Eine Revolution gibt es, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen, lautet ein Lenin zugeschriebenes Bonmot. Die Mehrheit der Iraner und Iranerinnen will nicht mehr. Aber die oben können noch, denn es geht hier nicht um good governance, sondern um die Fähigkeit, Staat und Gesellschaft unter Kontrolle zu halten.

Obwohl gerontokratisch wie kaum ein anderes, zeigt das iranische Regime keine Alterserscheinungen. Das Gegenteil ist der Fall. Der Iran leistet sich kostspielige Auslandsinterventionen und ein immens teures Atomprogramm. Auch wenn es für den regime change noch nicht reichen wird – die unübersehbare Feindschaft der Aufständischen gegen das Regime und dessen außenpolitischen Zielen ist ein gewal­tiges Problem für die Ayatollahs. Diese verstehen ihre »Herrschaft der Rechtsgelehrten« als Übergangsregierung bis zum Erscheinen des Mahdis, deren Aufgabe es ist, die Erlösung der Menschheit vorzubereiten. Sie halten aber eisern an der Fiktion fest, eben dies sei auch der Wille des iranischen Volkes. Wenn deutlich wird, dass sie nicht einmal ihre eigenen Leute bei der Stange halten können – was berechtigt sie dann zur Führung der islamischen Welt?

Das iranische Regime in einer Dauerkrise, der es nicht entrinnen kann, auch wenn es gelingt, die derzeitigen Proteste niederzuschlage

Das ist nicht nur ein ideologisches Problem. Um die Hegemonie über Syrien, den Irak und den Jemen zu gewinnen, müssen eine ideologische Basis und ein Klientelsystem geschaffen werden. Warlords und Terroristenführer werden weiterhin gerne iranisches Geld und iranische Waffen in Empfang nehmen. Die angestrebte engere politische Bindung wird aber nur zustande kommen, wenn sie den Eindruck haben, sich einer aufsteigenden und stabilen Macht anzuschließen.

Wenn die Atomrüstung und die außenpolitische Aggression der Ayatollahs beendet werden sollen, ist die Unterstützung der Iranerinnen und Iraner beim regime change nicht allein ein moralisches Gebot, sondern auch eine realpolitische Notwendigkeit. Die Alternative ist eine verheerende militärische Konfrontation, spätestens wenn das Regime über einsatzfähige Atomwaffen verfügt. Das dürfte, wenn alles weitergeht wie bisher, in zehn, spätestens 15 Jahren der Fall sein.

Jede ernstzunehmende Unterstützung des iranischen Freiheitskampfes muss die untrennbare Verknüpfung von innenpolitischer Repression und außenpolitischer Aggression berücksichtigen. Deutschland und die EU weigern sich weiterhin beharrlich, sich dem Problem überhaupt zu stellen. US-Präsident Donald Trump schimpft zwar gerne auf das iranische Regime, doch bleibt unklar, ob er tatsächlich etwas gegen dessen Expansionspolitik unternehmen wird. Dies würde in der Syrien-Politik zum Bruch mit Russland führen. Bislang hat Trump sich darauf beschränkt, dem saudischen Königshaus eine ebenso brutale wie dilettantische Gegenoffensive zu genehmigen, die die humanitäre Katastrophe im Jemen verschärft hat, aber dort, wie auch in ihren unblutigen Varianten etwa bei der Isolierung Katars, erfolglos blieb. Zudem bedürfte es zur Unterstützung eines regime change im Iran einer Hinwendung zu Demokratisierungspolitik und großzügiger

Hilfe, die sich nicht unmittelbar auszahlt – Trump lehnt beides explizit ab.
Auch ein verständigerer Präsident hätte es nicht leicht. Sanktionen gegen die Pasdaran sind notwendig, doch da diese wie ein kriminelles Kartell agieren und in der Schattenwirtschaft ­erfahren sind, ist ihre Wirkung beschränkt. Die Belohnung für das Atomabkommen hat das iranische Regime bereits eingestrichen. Mit einer Kündigung des Vertrags wäre derzeit wenig gewonnen, da die USA keine Partner für ein neues internationales Sanktionsregime fänden.

Andererseits befindet sich das iranische Regime in einer Dauerkrise, der es nicht entrinnen kann, auch wenn es gelingt, die derzeitigen Proteste niederzuschlagen. Diese haben bewiesen, dass der Widerstand alle sozialen Schichten und Regionen des Landes erfasst hat. Die Zahl der alltäglichen in­dividuellen und kollektiven Widerstandshandlungen mag wieder sinken, doch abgesehen von einer Minderheit ideologisch Fanatisierter und materiell Privilegierter hat das Regime keine Basis mehr. Die Pasdaran sind gefährlich, aber nicht unbesiegbar. Im Iran sind die politischen Voraussetzungen für eine Einheitsfront gegen die Aya­tollahs gut. Auf »iranische Republik, Freiheit, Gleichheit« können sich fast alle Oppositionellen einigen.