Reza Mohajerinejad, Vorsitzender der NGO Political Prisoner Watch, im Gespräch über die Gründe, die soziale Zusammensetzung und die Zukunft der Proteste im Iran

»Die Mittelschicht muss sich anschließen«

Die iranische Protestbewegung hat nur eine Chance, wenn sie auf der Straße bleibt. Dafür ist internationale Unterstützung notwendig, sagt Reza Mohajerinejad. Der Im US-amerikanischen Exil lebende Politologe war führend an den studentischen Protesten in Teheran im Juli 1999 beteiligt. In den USA promovierte Mohajerinejad über soziale Bewegungen im Iran, in Ägypten und der Türkei.
Interview Von

Herr Mohajerinejad, Sie waren selbst einer der führenden Köpfe der studentischen Proteste in Teheran im Jahr 1999, zuletzt forschten Sie über soziale Bewegungen im Iran. Hat Sie der Ausbruch der jüngsten Proteste dort überrascht?
Ehrlich gesagt, überhaupt nicht. In meiner Forschung habe ich mich insbesondere mit der Frage beschäftigt, was nach der »Grünen Bewegung« von 2009 die nächste Protestwelle sein würde. Im Grunde war schon klar, es würde um die wirtschaftliche Situation gehen. Natürlich protestierten die Leute, als sie auf die Straße gingen, gegen das poltische System als solches, aber der Hauptgrund war der ökonomische Druck. Die Funktionäre des Regimes leben ein bequemes Leben, lassen sich auch mal in Privatklinken in Deutschland behandeln, wie der ehemalige Justizminister Ayatollah Mah­moud Hashemi Shahroudi, während die Mehrheit der Bevölkerung kaum über die Runden kommt. Die immense Korruption des Regimes wächst von Jahr zu Jahr. Da ist einfach das Fass übergelaufen, die Leute haben die Nase voll davon. Man hat in den letzten zwei, drei Jahren solche Proteste bereits vereinzelt beobachten können. Das geschah aber eher in kleinen, weniger bedeutenden Städten. Was jetzt passiert ist, hat es hingegen in der Form seit Jahrzehnten nicht gegeben – Proteste im ganzen Iran, in mehr als 100 Städten.

Sie versuchen, die Proteste von Los Angeles aus zu unterstützen – was muss Ihrer Meinung nach nun passieren?
Wir müssen die iranische Mittelschicht dazu bringen, sich den Protesten anzuschließen. Das Regime tut gerade alles, um genau dies zu verhindern. ­Momentan kommen die Proteste von Arbeitern und der Unterschicht. Das Regime weiß, wenn es nun auch die Unterstützung der Mittelschicht verliert, dann war’s das. Dann hat es keine Chance. Deswegen setzten gerade die systemkonformen Reformer, zu denen heute auch  Präsident Hassan Rohani gehört, auf Angstmache. Man redet der Mittelschicht ein, es könnte so werden wie in Syrien, wenn die Proteste weitergehen. Das ist nicht erst in den letzten Jahren die Masche. Seit 20 Jahren, seit 1997, versprechen die sogenannten Reformer den Menschen Freiheit und Demokratie im Rahmen des bestehenden Systems. Das ist aber schlicht nicht möglich, die politische Struktur der Islamischen Republik lässt das gar nicht zu. Noch nie hat ein theokratisches System Demokratie herstellen können.

»Ich denke, die einzige Chance der Bewegung besteht darin, auf der Straße zu bleiben. Jede Stadt braucht einen besetzten Platz, damit sich mehr Leute anschließen können.«

Sind Sie in Kontakt mit Leuten im Iran, die Ihnen berichten, was da vor sich geht?
Ja, ich spreche täglich mit Leuten. Ausgehend von meiner Forschung über die sozialen Bewegungen in Iran, der Türkei und Ägypten empfehle ich den Protestierenden, Plätze zu besetzen, so wie in Ägypten den Tahrir-Platz. Es ist wichtig, einen Ort für Versammlungen zu haben, damit sich Leute der Bewegung anschließen können. Genau das versucht die Regierung insbesondere in der Hauptstadt Teheran und anderen Großstädten mit allen Mitteln zu verhindern.

Die iranischen Revolutionsgarden sind nicht gerade zimperlich im Umgang mit Protesten. Lässt sich diese Strategie denn überhaupt umsetzen?
Ich denke, die einzige Chance der Bewegung besteht darin, auf der Straße zu bleiben. Jede Stadt braucht einen besetzten öffentlichen Platz, damit sich mehr Leute anschließen können. Dann sind sie sichtbar für die ganze Welt. Außerdem kann sich die Bewegung auf der Basis von Gewaltfreiheit fortsetzen und so eine größere Breitenwirkung entfalten. Der Iran hat eine lange Geschichte sozialer Bewegungen, an die die Bewegung von heute anschließen kann. Das geht zurück bis zur Bewegung von 1905, die dem Iran als erstem Land des Nahen und Mittleren Ostens eine Verfassung erkämpft hat.

Das Regime der Islamischen Republik hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Situation in Syrien heute so ist, wie sie ist. Besteht da nicht die Gefahr, dass die Situation im Iran zu einem Bürgerkrieg eskaliert wie in Syrien?
Ich denke, der Vergleich mit Syrien ist aus mehreren Gründen für den Iran nicht zutreffend. Die Situation im Iran lässt sich besser mit Südkorea 1987, Tunesien 2010 oder Ägypten 2011 vergleichen. In Syrien begannen die Proteste in kleinen Städten, und die Regierung wollte den Menschen keinerlei Reformen zugestehen. Dann intervenierten die Regierungen Russlands und des Iran, was dazu führte, dass der Konflikt eskalierte. Daraufhin konnten sich islamische Fundamentalisten wie die Nusra-Front und später der »Islamische Staat« zuungunstren der zivilen Protestbewegung als Machtfaktor etablieren. Im Iran leben 70 Prozent der Bevölkerung in Großstädten, und die Mittelschicht spielt eine ganz zentrale Rolle. Man muss sich nur erinnern, was 2009 im Iran passiert ist. Das Beispiel Syrien wird vom Regime nur instrumentalisiert, es zielt darauf, die Ängste der Mittelschicht zu stimulieren, damit sie sich von den Protesten fernhält.

Sie waren an der großen Protestbewegung im Jahr 1999 beteiligt und haben die Bewegung von 2009 genau beobachtet. Wie unterscheidet sich die Situation heute von der vor fast zehn und vor fast 20 Jahren?
Der Unterschied ist, dass wir im Juli 1999 nach 20 Jahren Bestehen der Islamischen Republik die Ersten waren, die auf der Straße das Regime grundsätzlich in Frage gestellt haben. Damals war Mohammed Khatami Präsident. Seine Fraktion, die Reformer, ­befanden sich im Aufschwung und gewannen im Jahr darauf die Parlamentsmehrheit, waren aber auch noch ein recht neues Phänomen. Die Reformer bezeichneten uns als Anarchisten und beschuldigten uns, ihre Reformen zu sabotieren. Es hat sich aber gezeigt, dass wir damals recht hatten. Auch im Iran ist keine Demokratie ohne Trennung von Staat und Religion möglich. Unsere Bewegung war weitgehend ­jugendlich-studentisch, die von 2009 war viel breiter, zeitweise waren Millionen auf der Straße, größtenteils aus der Mittelschicht. Zunächst ging es lediglich um die Wahlen, sie sagten: »Wo ist meine Stimme?« Später ging es um Grundsätzlicheres, sie sagten: »Wo ist mein Land?« Von denen, die heute auf die Straße gehen, sind die meisten wohl zwischen 16 und 24 Jahren alt, sie sind wirklich jung. Das heißt, dass die meisten von ihnen noch nie in Politik involviert waren, auch die »Grüne Bewegung« von 2009 haben sie nicht aktiv erlebt. Sie haben keinerlei Hoffnung darauf, dass das Regime Veränderungen vornimmt.

 

»Die Bewegung im Iran hat eine neue Hoffnung geweckt.«

 

Hat die Bewegung eine bestimmte politische Richtung oder wird sie nur aus Wut auf das Bestehende angetrieben? Lässt sich da bereits ­etwas erkennen, etwa aus den verwendeten Parolen?
Um das richtig zu verstehen, darf man nicht nur zehn Jahre zurückschauen. Man muss mindestens 40 Jahre, also die Geschichte der Islamischen Republik seit ihrer Gründung, in den Blick nehmen. Die Ideologie war immer »Nieder mit den USA, nieder mit Israel«. Die Leute können das nicht mehr ­hören. Wenn sie heute rufen, »Nicht für Libanon, nicht für Gaza, mein Leben nur für den Iran«, bedeutet das schlicht, dass sie diese Ideologie satthaben. Das hat nicht zwangsläufig mit nationalem Dünkel zu tun. Sie sehen ihre Regierung ständig zu Solidarität mit den Palästinensern und der Hizbollah auf­rufen und riesige Summen in den Konflikt in Syrien investieren. Sie fragen sich, warum sich ihre Regierung nicht zunächst einmal um die Not im eigenen Land kümmert. Sie wollen einen neuen Gesellschaftsvertrag, der sich der Probleme der iranischen Nation annimmt und nicht, wie es die Ideologie der Islamischen Republik vorschreibt, das Interesse der Nation dem Interesse der islamischen Revolution unterordnet.

»Ich erwarte von Regierungen weltweit moralische Unterstützung, wenn es zu Menschenrechtsverletzungen kommt.«

In Los Angeles fand am Sonntag eine große Demonstration statt, die Sie selbst mitorganisiert haben. Wer nahm daran teil?
Es gab schon seit Tagen jeden Abend Kundgebungen in Los Angeles in Solidarität mit der Bewegung im Iran. Am Sonntag fanden in mehreren US-Städten Demonstrationen für eine säkulare Demokratie im Iran statt. Mehrere Tausend Personen haben hier in Los Angeles demonstriert.

Wie ist die Stimmung unter Iranerinnen und Iranern in den USA?
Sie zeigen eine überwältigende Sympathie mit den Protesten, es ist ein wunderbares Gefühl. Die Bewegung im Iran hat eine neue Hoffnung geweckt. Die Iranerinnen und Iraner, die hier leben, leben hier nicht aus freier Entscheidung, sondern weil sie kein besseres Leben im Iran haben konnten. Darum freuen sie sich, wenn Menschen auf der Straße für Freiheit und gegen die Islamische Republik kämpfen. Das wollen sie selbstverständlich unterstützen.

Wie können sie denn momentan die Bewegung unterstützen?
Sie können Geld geben, sie können die persischsprachigen Medien und die sozialen Netzwerke nutzen. Es geht um mehr Solidarität und internationalen Zusammenhalt. Das hier kann nur der Anfang sein. Bis unser Ziel erreicht ist, wird es noch ein langer Weg sein. Wir müssen uns viel besser organisieren, als es bisher der Fall war, um diese Bewegung zu unterstützen.

Soziale Netzwerke wie Facebook und Telegram werden im Iran momentan unterdrückt, das Internet wird vom Staat stark kontrolliert. Inwiefern können sie effektiv benutzt werden?
Selbst ein repressives Regime wie das im Iran kann nicht für lange Zeit auf die Nutzung des Internets verzichten. Die iranische Gesellschaft und vor ­allem die Wirtschaft sind viel zu sehr darauf angewiesen. Man muss nur vergleichen, was in Ägypten unter Mubarak passiert ist, wo jeder Tag ohne Internet der Wirtschaft gigantische Schäden zugefügt hat.

Während der Proteste im Jahr 2009 haben Sie einen offenen Brief an den damaigen US-Präsidenten Barack Obama geschrieben. Was war der Inhalt dieses Briefes?
Ich habe dem Präsidenten vorgeworfen, dass seine Politik gegenüber der »Grünen Bewegung« falsch sei. Dabei war ich zunächst durchaus ein Unterstützer Obamas, wegen seiner Position zu den Menschenrechten. Als die Menschen gewaltfrei demonstrierten und lediglich fragten »Wo ist meine Stimme?«, hätte er sie mindestens moralisch unterstützen können.

Präsident Donald Trump hat nun auf Twitter versprochen, dass die Bewegung sich »zu gegebener Zeit« auf die Unterstützung der USA verlassen könne. Wie wird das von den Iranern aufgenommen? Der von Trumps Regierung initiierte »travel ban« hat ihn bei Iranern schließlich nicht sehr beliebt gemacht, weil auch sie von den Einreisebeschränkungen betroffen sind.
Was internationale Unterstützung betrifft, können wir nicht wählerisch sein. Zu diesem Zeitpunkt frage ich mich nicht, ob ich mich mit jemandem, der die Bewegung unterstützt, in anderen Punkten politisch verstehe oder nicht. Ich erwarte von Regierungen weltweit moralische Unterstützung, wenn es zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Für mich war Nelson Mandela immer ein großes Vorbild. Er wurde einmal gefragt, warum er auf einer seiner ersten Reisen Präsident George H. W. Bush, den Vater von George W. Bush, getroffen habe. Er antwortete, dass er für die Freiheit seines Volkes alles tue, was nötig sei. Im Augenblick brauchen wir die Unterstützung von Menschen und Regierungen der ganzen Welt im Kampf für Freiheit und Menschenrechte. Und nicht zuletzt brauchen wir Medien, die ­darüber berichten, was im Iran vor sich geht.
 

 

Nachtrag vom 11.1.2018Nachträglich wünscht Reza Mohajerinejad ausdrücklich zu betonen, dass er moralische Unterstützung einfordert, jegliche militärischen Aktionen gegen den Iran grundsätzlich ablehnt.