In Tunesien weiten sich die Proteste gegen die Regierung aus

Die Rückkehr der Flammen

Kurz vor dem Jahrestag des Sturzes des autoritären Herrschers Ben Ali sind in Tunesien heftige Unruhen ausgebrochen. Die sozialen Ursachen der Revolte von 2011 bestehen fort.

Die Demonstration am siebten Jahrestag der Flucht des autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali hatte einen bitteren Beigeschmack. Vorbei sind die Zeiten, in denen die tunesische »Revo­lution« bejubelt wurde, die den sogenannten arabischen Frühling eingeleitet hatte und als Modell für eine Demokratisierung der autoritären Regime in der Region gepriesen wurde. In der Vorwoche hatten soziale Auseinandersetzungen mit teils aufständischen ­Zügen das Land erschüttert.

Zwischen 1 000 und 2 000 Demons­tranten fanden sich am Sonntag auf der Avenue Bourguiba im Zentrum von Tunis ein. Der mächtige Gewerkschafts­dachverband UGTT, das oppositionelle linke Parteienbündnis Front populaire (FP) und kleinere gesellschaftliche ­Organisationen hatten zu der Demonstration aufgerufen. Vor allem Jugend­liche agitierten gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption, die bereits die Revolte gegen Ben Ali angefacht hatten. Die UGTT schien eher die Rolle der Feuerwehr einzunehmen. »Die Demonstrationen gegen die Arbeitslosigkeit und Teuerung sind legitim«, zitierte die französische Tageszeitung Le Monde Tawfik Rashid, den Generalsekretär ­einer bedeutenden Branchengewerkschaft in der UGTT, »aber die Gewalt der Banditen muss verurteilt werden. In der UGTT fordert man, dass die ­Regierung den Kurs ihrer Austeritätspolitik ändert, aber man sucht keinen Konflikt mit ihr.«

Der Auslöser der sozialen Revolte war das neue Haushaltsgesetz 2018, das die Versammlung der Volksvertreter (ARP), das tunesische Parlament, am 9. Dezember verabschiedet hatte und das zu Jahresbeginn in Kraft trat. Das Haushaltsgesetz erhöht die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt und die Abgaben auf bestimmte Waren, was die Kosten für Lebensmittel, Benzin, Gas und Telekommunikationsmittel steigen lässt. »Die Leute fühlten sich verarmen, ohne dass sie einen Verantwort­lichen ausmachen konnten«, sagte Michael Ayari, Spezialist für Tunesien beim Forschungszentrum International Crisis Group, über den Beginn der Proteste Anfang Januar. Eine Inflationsrate von sechs Prozent hat bereits die Kaufkraft der Bevölkerung unterminiert, die Arbeitslosenrate erreicht bei Jugend­lichen mehr als 30 Prozent.

Am 3. Januar, dem symbolträchtigen Jahrestag des Beginns der Brotunruhen im Jahr 1984, begann eine neue Bewegung namens »Fech Nestanew?« (Worauf warten wir?) in Tunis mit einer ­öffentlichen Aktion vor dem Stadttheater zu protestieren. Es ging gegen das Haushaltsgesetz, gegen die Preiserhöhungen, gegen das neue Moratorium für Einstellungen im öffentlichen Dienst, gegen Korruption und Privatisierungen. Die Bewegung setzt sich aus Jugendlichen zusammen, die teils aus progressiven Parteien stammen und seit November Diskussionen organisiert haben. Erste Demonstrationen folgten, die schnell auf die geballte Staatsmacht trafen. In der Nacht von Montag auf Dienstag vorvergangener Woche kam es im ganzen Land zu ersten schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei – in den Gouvernoraten Manouba, Kef, Kasserine, Gafsa, Kebili, ebenso in Ettadhamen, einem Stadtteil von Tunis. Nach Angaben eines Sprechers des Innenministeriums tags darauf wurden Supermärkte geplündert, Polizeiposten und Banken attackiert und Autos der Ordnungskräfte abgefackelt. In der Kleinstadt Tebourba nahe Tunis kam ein Demons­trant ums Leben. Nach ­Augenzeugenberichten wurde er absichtlich von einem Polizeiauto überfahren, dem Innenministerium zufolge erstickte er, weil er Asthma hatte. Möglicherweise war der Einsatz von Tränengas die Ursache für seinen Tod. Die Ergebnisse der Autopsie lagen bis Redaktionsschluss nicht vor.

In den darauffolgenden Nächten weiteten sich die Unruhen aus, teils wurden Straßen mit Barrikaden und brennenden Reifen blockiert, um den Nachschub von Polizei und Militär zu ­erschweren. In einigen Städten wurde die Nationalgarde oder die Armee eingesetzt, nachdem Verwaltungsgebäude abgebrannt waren. Bis Montag wurden nach Angaben des Innenministeriums mehr als 930 Personen wegen Akten der Gewalt, Diebstahls oder Vandalismus in Untersuchungshaft gesteckt, noch am Sonntag wurden demnach 41 Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren fest­genommen.

Die politischen Reaktionen auf die Unruhen fielen unterschiedlich aus. In einer Presseerklärung vom vorver­gangenen Dienstagabend denunzierte die islamistische Partei al-Nahda »jede anarchistische Bewegung«, die das Eigentum, den Staat und seine ­Uniformierten angreift, und erwähnte insbesondere »die Hartnäckigkeit einiger Individuen, Anarchie zu verbreiten«, und »einige als ›linksextrem‹ beschriebene Akte, die unbedingt zu vermeiden sind«. Ministerpräsident Youssef Chahed bezeichnete die Unruhen als »Vandalismus« und beklagte insbesondere in Hinblick auf den Front populaire »die Unverantwortlichkeit gewisser Politiker«, die zur Gewalt aufrufen würden. Hamma Hammami, der prominente Sprecher des FP, wies das zurück und sagte: »Er klagt den Front populaire an, indem er die friedliche aktivistische Bewegung, die wir unterstützen, mit den Akten des Vandalismus und der Gewalt verwechselt«, für die kriminelle Milizen verantwortlich seien.

 

Gespannte wirtschaftliche Situation

Insbesondere die Heftigkeit der gewaltsamen Auseinandersetzungen, die dem Agieren organisierter Gruppen zugeschrieben wird, sorgt für Spekulationen, wer dafür verantwortlich sein könnte. Oft wird eine interessengeleitete Manipulation der Proteste beklagt. Die französisch-tunesische Historikerin Sophie Bessis etwa brachte folgenden Erklärungsversuch vor: »In Tunesien ist ein großer Teil der Wirtschaft eine ­Parallelökonomie. In einer gewissen Anzahl von Regionen haben die Leitenden dieser Parallelökonomie ein großes ­Interesse daran, dass man gegen die Steuern (im Haushaltsgesetz 2018, Anm. d. Red.) protestiert, die ihnen zum Nachteil gereichen.«

Wie dem auch sei, die Unruhen spielen sich in einer überaus gespannten wirtschaftlichen Situation ab. Eine gewisse Nostalgie nach der guten alten Zeit unter dem 2011 gestürzten Ben Ali macht sich bemerkbar, in der es angeblich weniger wirtschaftliche Probleme gab. Aber das ist eine Illusion. »In Wirklichkeit wurde die Wirtschaft seit 2008 schwächer«, sagte der tunesische Ökonom Radhi Meddeb kürzlich Le Monde; in jenem Jahr begann die Wirtschaftskrise in Europa, dem wichtigsten ökonomischen Partner Tunesiens. Und er fügte hinzu: »Vor allem war das Wachstum von schlechter Qualität, sehr ungleich verteilt und schuf keine Arbeitsplätze.« Das tunesische Wirtschaftsmodell konnte unter Ben Ali nur autoritär aufrechterhalten werden, die Regierungen nach seinem Sturz im Jahr 2011 hätten »den sozialen Frieden erkauft: Der Staat hat in großem Maß Einstellungen vorgenommen«, so Michael Ayari, Tunesien-Spezialist des Forschungszentrums International Crisis Group. Die Personalkosten des öffentlichen Diensts stiegen Le Monde zufolge von sieben Milliarden Dinar (umgerechnet 2,35 Milliarden Euro) im Jahr 2010 auf schätzungsweise 15 Milliarden Dinar für 2018. Die Staatsverschuldung liegt bei rund 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, weshalb das Land auf internationale Finanzhilfen und Kredite angewiesen ist, unter anderem vom Internationalen Währungsfonds, der im Gegenzug staatliche Sparmaßnahmen fordert. Der tunesische Dinar hat im vergangenen Jahr gegenüber dem Euro mindestens 15 Prozent an Wert eingebüßt.

Der Spielraum der »Regierung der nationalen Einheit« unter Youssef Chahed, in der eine Handvoll Parteien ­inklusive der islamistischen al-Nahda Minister stellen, scheint begrenzt. Es fehlt Geld für Entwicklungsprojekte in den marginalisierten Regionen im Landesinnern, in denen die informelle Ökonomie blüht. Und die Maßnahmen zugunsten armer Familien und erwerbsloser Jugendlicher, die die Regierung angekündigt hat, um die Unruhen einzudämmen, sind vage.

Zudem bröckelt die Unterstützung für die Regierung. Die Partei Nida Tounès, die auf einem antiislamistischen Ticket die Wahlen 2014 gewann, um dann mit der zweitplatzierten al-Nahda in der Regierung zu sitzen, ist wegen ­interner Querelen geschwächt. Mohsen Marzouk, ehemals Mitglied von Nida Tounès und Generalsekretär von deren Abspaltung Machrouû Tounes, sagte am Montag in Hinblick auf Nida und al-Nahda, die beiden Parteien an der Macht würden das Land ersticken, er halte die Regierung der nationalen ­Einheit für Geschichte: »Sie existiert nicht mehr.« Bereits Chaheds Vor­gängerregierung war über soziale Unruhen gestürzt, die aber anders als die derzeitigen überwiegend lokalen Charakter hatten. Noch aber unterstützt die UGTT den Ministerpräsidenten.

Zudem werden Stimmen lauter, die eine autoritäre Formierung in Gestalt ­einer Restauration befürchten – die Rückkehr zu einem Präsidialsystem wie unter Ben Ali unter dem Vorwand, die nach dessen Sturz geschaffenen Institutionen zur ­Reform von Justiz, Medien etcetera seien dysfunktional. Der weitverzweigte Polizeiapparat hat im Namen des Kampfs gegen den jihadistischen Terrorismus Reformbestrebungen widerstanden, in jüngster Zeit wurden diverse Figuren des ancien régime recycelt.

Die staatliche Reaktion auf die gegenwärtigen sozialen Unruhen hat solche Befürchtungen nicht entkräftet. Die nationale Gewerkschaft der tunesischen Journalisten kritisierte am Montag vielfache Rechtsverletzungen und Restriktionen der Behörden und der Polizei gegenüber ausländischen Korrespondenten, die über die Unruhen berichteten. Bereits vergangene Woche hatte Amnesty International eine »exzessive Gewaltanwendung« der Polizei bei den Unruhen und die Festnahme von 15 Aktivisten und Koordinatoren von Fech Testanew kritisiert.