Über warme Winter sollte man sich nicht freuen

Die gute kalte Zeit

Warme Winter sind nicht nur unromantisch, sie haben auch verschiedenste Auswirkungen auf die Tierwelt und das Ökosystem.

»I’m dreaming of a white Christmas, just like the ones I used to know« sang Bing Crosby in seinem Welthit »White Christmas« von 1942. Früher war ja ­bekanntlich irgendwie alles besser. Doch bei aller Romantisierung der guten ­kalten Zeit wird oft vergessen, was der Winter eigentlich ist: eine existentielle Bedrohung für alle Lebewesen, eine treibende Kraft der natür­lichen Auslese. Der Weihnachtsmann ist in Wirklichkeit eher der Sensenmann. Lange, harte Winter hindern Pflanzen und Tiere wesentlich an ihrer Ausbreitung. Nicht umsonst nimmt die Artenvielfalt rasant ab, je weiter man sich aus den warmen Tropen nach Norden oder Süden bewegt.

Denn Kälte ist lebensfeindlich. Nie­drige Temperaturen verlangsamen den Stoffwechsel von wechselwarmen Tieren, Warmblütern dagegen verlangen sie einen stark erhöhten Energieverbrauch ab, damit die Körpertemperatur aufrechterhalten werden kann. Mangelndes Licht im Winter bremst die Photosynthese, die Schneedecke macht das Auffinden von Nahrung schwierig und der Frost schließlich zerstört Zellen durch die Kristallisation von Wasser und verursacht so Erfrierungen – oder den Tod.

Um dem trotzen zu können, hat die Natur unzählige Anpassungen ent­wickelt, vom Abwerfen der Blätter bei Laubbäumen über den Winterschlaf bei Bär und Murmeltier, den Fellwechsel beim Schneehasen, den Schneeschuhhufen der Rentiere und das rastlose Umherlaufen des Eisbären auf der Suche nach einer unvorsichtigen Robbe bis hin zur völligen Reduktion des Stoffwechsels bei der Kältestarre von Amphibien oder Reptilien. Einige Spezialisten, etwa die Gallmotte, der Waldfrosch und die Zierschildkröte, haben sogar Frostschutzmittel in ihren Zellen, die es ihren Trägern ermöglichen, zumindest teilweise durchzufrieren, um dann im nächsten Frühjahr wieder aufzutauen, als sei nichts gewesen.

Auch für den Menschen war der Winter stets eine besondere Herausfor­derung. Für die moderne Winterromantik hätten die Menschen, die in Mitteleuropa während der Kleinen Eiszeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert lebten, ­wenig Verständnis gehabt. Für sie ging es ums nackte Überleben. Da hat man sich das Wohnzimmer schon einmal mit dem lieben Vieh geteilt und über ­Monate aufs Lüften verzichtet, um irgendwie durchzukommen.

Dieses Problem haben heute die meisten Menschen nicht mehr. Was aber passiert in der Natur, wenn es in der kalten Jahreszeit einfach nicht richtig kalt wird? Der derzeitige Winter in Deutschland ist nicht nur der trübste seit 1951, dem Beginn der Messungen, sondern auch einer der wärmsten. In Berlin etwa sind die Temperaturen kaum einmal unter die Frostgrenze gefallen.

 

Amphibien und Reptilien, die während ihrer Überwinterung in ihren Verstecken zu warm lagern, verbrauchen mehr Energie als vorgesehen – eine mitunter tödliche Entwicklung.

 

Ungewöhnlich warme Winter gab es schon immer. So zitiert der Sachbuch­autor Bernd Brunner in seiner 2016 erschienenen Kulturgeschichte der kalten Jahreszeit unter dem Titel »Als die Winter noch Winter waren« einen Tagebucheintrag aus dem Jahr 1661 in England, mitten aus der Kleinen Eiszeit: »Das Wetter in diesem Winter ist kurios. Es ist gar nicht kalt, die Wege sind trocken und Fliegen summen herum. Die Rosenbüsche sind voller Blätter. So etwas hat es hier noch nicht gegeben.«

Die Auswirkungen solcher Anomalien auf die Natur sind unterschiedlich. Ist es im Winter warm, summen jedenfalls nicht nur die Fliegen herum, sondern bei Temperaturen über zehn Grad Celsius auch die Bienen. Für Bienen ist das zunächst erfreulich. Sehr kalte Winter stellen für sie eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar; um zu überleben, benötigen sie einen wichtigen Teil des in der warmen Jahreszeit gesammelten Honigs. Sie finden sich zu einer großen Traube zusammen und wärmen sich durch Honigkonsum und körperliche Nähe.Fällt der große Frost aus, sinkt nicht nur die direkte Gefahr des Kältetods, sondern die Insekten sparen auch Vorräte. Allerdings profitiert auch die Varroamilbe, die die Bienenlarven befällt, von milden Wintern. Wenn hohe Temperaturen die Bienenkönigin zur Eiablage ermutigen und es dann doch noch kalt wird, ist ein noch höherer Energieaufwand nötig, um die Brut zu schützen.

Amphibien und Reptilien, die während ihrer Überwinterung in ihren Verstecken zu warm lagern, verbrauchen mehr Energie als vorgesehen – eine mitunter tödliche Entwicklung. Entweder hat das Tier dann bei späteren Kälteeinbrüchen nicht mehr genug zuzusetzen oder es kommt am Ende der Überwinterung völlig ausgemergelt und geschwächt ans Tageslicht – und ist damit anfälliger für Krankheiten und Fressfeinde. Das Problem ist auch unter Warmblütern geläufig. Igel etwa, die wegen zu hoher Temperaturen nicht in Winterschlaf fallen können, verbrauchen zu viel Energie, was sie aufgrund der schlechteren Nahrungsverfügbarkeit nicht kompensieren können. Vor allem Jungtiere sind betroffen – Igelretter haben immer dann besonders viel zu tun, wenn es zu Beginn des Winters nicht recht kalt werden will und den Tieren der äußere Anreiz fehlt, sich zurückzuziehen.