Bei einem Prozess in Bernau bei Berlin geht es indirekt um die Frage, wie rechts die brandenburgische Stadt ist

Spontan, aber nicht unpolitisch

Der Prozess am Bernauer Amtsgericht beginnt mit kurzer Verzögerung. Die Anwesenden müssen so lange zusammenrücken, bis alle Besucher einen Sitzplatz haben. »Jetzt haben wir erst einmal für Ordnung gesorgt und können anfangen«, sagt der vom ungewöhnlich hohen Besucherandrang wenig beeindruckte Vorsitzende Richter Andreas Müller zu Beginn der Verhandlung. Etwa 40 Personen warten gespannt, darunter Angereiste aus allen Ecken Brandenburgs sowie einige lokale Stadtverordnete.

Das Interesse an dem Fall ist groß, denn der Angeklagte Jörn K. soll gemeinsam mit zwei Unbekannten einen linken Jugendlichen bedroht haben. »Dir Zecke schneiden wir den Kopf ab«, sollen die drei ihm gedroht haben. Der Betroffene schildert Jagdszenen, bei denen er über rote Ampeln fliehen und sich im örtlichen Büro der Linkspartei verschanzen musste, um die Verfolger davon abzuhalten, ihre Drohungen wahrzumachen. Obwohl es nicht in der Anklageschrift steht, geht es auch um Volks­verhetzung, wie der Richter feststellt. Denn auf der Liste von Beleidigungen und Bedrohungen, die dem Angeklagten zur Last gelegt werden, finden sich auch Sätze wie: »Du Jude, wir häuten und köpfen dich.«

 

Der Angeklagte spricht viel von »Ehre«, »Freundschaft« und »Fußball«.

 

Angesichts solcher Schilderungen erhoffen sich die Besucher Aufschluss darüber, ob es sich bei den Beschuldigten um organisierte Neonazis handelt. Das wäre für die brandenburgische Stadt nordöstlich von Berlin ein beunruhigendes Signal. Denn im Vergleich zu den vorherigen Dekaden sei zuletzt deutlich weniger offen neonazistische Gewalt in der Gemeinde wahrnehmbar gewesen, sagt Heidi Scheidt, die die Linkspartei in der Stadtverordnetenversammlung vertritt, der Jungle World. Die Zahlen des Vereins Opferperspektive, der seit 2002 rechtsextreme Gewalttaten in Brandenburg statistisch erfasst, bestätigen diese Einschätzung. Der Landkreis Barnim, zu dem Bernau gehört, verzeichnet weniger besorgniserregende Zahlen als andere Teile Brandenburgs.

Der Verteidiger, der Rechtsanwalt Robert Tietze aus Berlin-Friedrichshain, verliest ein Teilgeständnis von Jörn K. und scheint sich dabei phasenweise selbst über Inkonsistenzen zu wundern. Ja, der Angeklagte habe zwar »Du Jude« gerufen, aber an Morddrohungen könne er sich nicht erinnern. Ja, sie hätten den Jugendlichen wegen antifaschistischer Symbole an dessen Kleidung angehalten, aber dabei sei es nicht um den politischen Inhalt gegangen, sondern darum, dass Antifa-Sticker oft Aufkleber des Fußballvereins Union Berlin überdeckten. Und ja, man sei »etwas treudeutsch«, aber keineswegs rechts oder gar ein Nazi, schließlich sei der Mandant nicht in der NPD.

Nachfragen bringen diese Verteidigungsstrategie mehr und mehr ins Wanken. Der Vorsitzende Richter macht dem Angeklagten klar, dass es kein gutes Licht auf ihn und seine Reumütigkeit werfe, wenn er weiterhin die Mit­beschuldigten decke. Dem Bernauer Jugendstrafrichter eilt unter Neonazis ein gewisser Ruf voraus. Er hat außergewöhnlich harte und abschreckende Urteile gegen extrem rechte Gewalttäter ausgesprochen und sich damit Spitznamen wie »Roter Richter Gnadenlos« oder »Ronald Schill von Brandenburg« eingehandelt. Dass er an die abschreckende Signalwirkung von Höchststrafen glaubt, legte Müller in einem Bestseller dar, und er wird nicht müde, diese Position auf den Talkshow-Sofas der Republik zu vertreten.

Jörn K. signalisiert schließlich, dass er die Identität der anderen Beteiligten doch offenlegen wird. Doch so weit kommt es an diesem Tag nicht. In der Vernehmung des Betroffenen werden noch weitere Vorwürfe erhoben. K. soll zwei Monate nach dem beschriebenen Vorfall, mutmaßlich mit denselben Komplizen, Freunde des Betroffenen mit einem Messer bedroht haben, um den Aufenthaltsort ihres Opfers in ­Erfahrung zu bringen. Da sich dieser Sachverhalt nicht abschließend klären lässt, vertagt der inzwischen sichtlich genervte Richter den Prozess. Damit bleibt auch die Identität der beiden weiteren Verfolger zunächst im Dunkeln.

Wahrscheinlich handelt es sich bei den Beschuldigten nicht um eine or­ganisierte Kameradschaft, sondern um eine lose Clique junger Männer mit ­einer niedrigen Gewalthemmschwelle, rechtem Gedankengut und toxischen Männlichkeitsidealen.

In den spärlichen Äußerungen des Beschuldigten tauchen oft die Begriffe »Ehre«, »Freundschaft« und »Fußball« auf. »Ich würde vorerst von einer spontanen Aktion ausgehen, die aber dezidiert politisch motiviert war«, sagt Lotta Winter von der Antifaschistischen Initiative Eberswalde der Jungle World. »Hier hat sich der weit verbreitete Hass auf Linke Bahn gebrochen«, so die Antifaschistin, die eigens zur Prozessbeobachtung angereist ist. Ob dieser Vorfall symptomatisch für das Umland der Hauptstadt ist, vermag sie nicht mit Sicherheit zu beantworten. Ihre Initiative beobachte aber, dass sich im Berliner Speckgürtel und insbesondere im Landkreis Barnim die alten Kameradschaftsstrukturen immer weiter auflösten. »Die ak­tiven Nazis werden älter, steigen aus, und die Strukturen verschwimmen ­zusehends mit rechten Rocker-Milieus, die nicht sonderlich attraktiv für junge Menschen sind«, so Winter.

Eine vom Moses-Mendelssohn-Zentrum Potsdam herausgegebene Studie zu rechtsextremen und flüchtlingsfeindlichen Mobilisierungen in Brandenburg hat kürzlich festgestellt, dass der Anstieg der Zahl rechter Demons­trationen seit 2014 nur bedingt mit den alten neonazistischen Strukturen zu erklären sei. So habe insbesondere der »bewegungsorientierte« brandenburgische Landesverband der AfD dazu beigetragen, dass sich die teils spon­tanen flüchtlingsfeindlichen Proteste zu einer engen neurechten Szene ­konsolidierten.

Der 15jährige Betroffene beschreibt die Situation im Gespräch mit der Jungle World ähnlich: »Man kann in Bernau beobachten, wie sich AfD- und NPD-Kader Seite an Seite organisieren.« Im vergangenen Sommer hatten beide Parteien hier mit Demonstra­tionen und Kundgebungen gegen einen geplanten islamischen Gebetsraum agitiert. Örtliche Antifaschisten beklagten damals, dass die Gegenproteste keine nennenswerte Unterstützung aus dem nur wenige Kilometer entfernten Berlin erhalten hätten.

Umso ermutigender ist die hohe Zahl der angereisten Beobachter im Prozess gegen Jörn K., die der Staatsanwalt kollektiv dem »Lager der Gegner« zuordnet. »Es ist ein gutes Gefühl, dass so viele Leute da waren, das stärkt einem den Rücken«, erinnert sich der Be­troffene nach dem Prozessauftakt.